Die Hassliste: Roman (German Edition)
streicheln. »Mhm … wir haben nicht … Nick und ich … wir wussten nicht … wer diese Leute in Wirklichkeit waren.«
Jessica beugte sich wieder nach vorne.
»Abby Dempsey«, sagte sie, »war eine passionierte Reiterin. Sie hatte ein eigenes Pferd, das Nietzsche hieß, und ist jeden Samstagvormittag auf Nietzsche geritten. Nächsten Sommer hätte sie beim Knofton-Jugendrodeo mitmachen sollen. Sie war sehr aufgeregt deswegen. Abby war auch meine beste Freundin«, fügte sie heiser hinzu. »Wir haben eine Strähne von Nietzsches Mähne für Abby in diese Zeitkapsel getan, die uns für immer an die Opfer des zweiten Mai erinnern soll.«
Sie trat einen Schritt zurück und ich kam wieder nach vorne. Meine Finger, in denen ich die Karten mit meinen Redenotizen hielt, zitterten und ich konnte immer noch nicht ins Publikum schauen. Aber als ich mich an die Gesichter all der Eltern erinnerte, mit denen Jessica und ich geredet hatten, wurde es leichter. All die Eltern, die ich endlich persönlich um Entschuldigung gebeten hatte. All die Eltern, die meine Entschuldigung angenommen hatten. Einige hatten mir verziehen, andere nicht. Manche hatten gesagt, es habe für sie nie etwas gegeben, wofür ich mich entschuldigen müsste. Wir hatten miteinander geweint und es hatte sie überglücklich gemacht, uns Geschichten von ihren Kindern zu erzählen. Die meisten von ihnen saßen jetzt wohl im Publikum.
»Christy Bruter«, sagte ich, »hat einen Studienplatz ander Notre-Dame-Universität und will dort Psychologie studieren. Sie hat vor, mit Traumapatienten zu arbeiten, und schreibt zusammen mit einer Co-Autorin gerade an einem Buch über ihre Nahtod-Erfahrung. Christy hat uns einen Softball für die Zeitkapsel übergeben.«
Jessica beugte sich wieder vor. »Jeff Hicks kam am Morgen des zweiten Mai gerade aus dem Krankenhaus, wo er seinen neugeborenen Bruder zum ersten Mal gesehen hatte. Er brach verspätet von dort auf und konnte nicht pünktlich in der Schule sein, doch als er das Krankenhaus verließ, war er total begeistert über einen zweiten Jungen in seiner Familie. Er schlug sogar einen Namen für das Baby vor – Damon, nach einem Footballspieler, den er gut fand. Zu Ehren von Jeff nannten seine Eltern das Baby Damon Jeffrey. Wir legen Damon Jeffreys Namensbändchen aus dem Krankenhaus für Jeff in die Zeitkapsel.«
»Ginny Baker«, begann ich. Ich atmete tief ein. Es gab so viel, was ich über Ginny sagen wollte. Ginny, die so viel durchlitten hatte. Die weiter leiden würde. Die hier nicht dabei sein konnte, weil sie immer wieder aufs Neue versuchte, zu Ende zu führen, was Nick begonnen hatte. Die sich bestrafen wollte, weil sie fand, dass sie die Spirale des Hasses in Gang gesetzt hatte. »Ginny hat schon mit zwei Jahren bei einem Kindercasting den ersten Platz belegt. Ihre Mutter sagt, dass sie schon als kleines Mädchen immer gern Sachen vorführte und mit Begeisterung getanzt hat. Ginny hat sich entschieden …«, ich brach ab und versuchte, das Weinen zu unterdrücken, »… nichts in die Zeitkapsel zu legen.« Ich senkte den Kopf.
So machten wir weiter – abwechselnd präsentiertenwir Geschichten und Gegenstände zu Leuten wie Lin Yong und Amanda Kinney, Max Hills und anderen. Die Witwe von Mr Kline schluchzte laut auf, als wir für ihn eine Vierteldollar-Münze in die Zeitkapsel legten, wegen seiner Angewohnheit, Schülern, die eine Frage richtig beantwortet hatten, einen Vierteldollar zuzuwerfen. Eine seiner Töchter hatte ihren Kopf tief in den Falten vom Kleid ihrer Mutter vergraben und rührte sich nicht.
Wir kamen zum Schluss und ich stieg die Treppe hinunter zurück zu meinem Platz. Ich vermied es, irgendwen direkt anzuschauen – das Geräusch von sich schnäuzenden Nasen um mich herum war überwältigend.
Jessica stand nun allein am Rednerpult, aufrecht, mit roter Nase, aber auch mit wild entschlossenem Blick. Ihre blonden Haare wehten leicht wie Spinnweben durch den Wind.
»Es gibt noch zwei andere«, sagte sie ins Mikrofon. Ich runzelte die Stirn und begann, die Leute an den Fingern abzuzählen. Ich war mir sicher, dass wir alle genannt hatten. Jessica atmete tief ein.
»Nick Levil«, sagte sie, »liebte Shakespeare.« Ich hielt die Luft an. Wann hatte Jessica mit Nicks Familie gesprochen? Warum hatte sie das getan? War sie ganz bewusst ohne mich hingegangen? Ich kniff die Augen zu und schielte zu der Bank hinüber. Tatsächlich, da war Nicks Name, es war der letzte auf der
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