Yelena und der Mörder von Sitia - Snyder, M: Yelena und der Mörder von Sitia
1. KAPITEL
W ir sind da“, sagte Irys. Ich schaute mich um. Der Dschungel, der uns von allen Seiten einschloss, explodierte förmlich vor Leben. Üppig wucherndes Gebüsch versperrte uns den Pfad, Lianen hingen von den Bäumen, deren Geäst sich zu einem undurchdringlichen Himmel verknotet hatte, und das immerwährende Krächzen und Trillern der Urwaldvögel hallte in meinen Ohren wider. Kleine pelzige Kreaturen, die uns auf unserem Weg gefolgt waren, lugten misstrauisch zwischen den riesigen Blättern hervor, hinter denen sie sich vor uns versteckten.
„Wo?“, fragte ich mit einem Blick auf die anderen drei Mädchen, die sich ratlos anschauten. Die Luft war so schwül, dass ihre dünnen Baumwollkleider schweißgetränkt waren. Auch meine schwarze Hose und meine weiße Bluse klebten an meiner klammen Haut. Wir waren müde von den schweren Rucksäcken, mit denen wir uns auf den schmalen Dschungelpfaden abgeschleppt hatten, und unsere Haut juckte von den Stichen unzähliger Insekten, deren Namen wir nicht kannten.
„Die Heimstatt der Zaltanas“, erwiderte Irys. „Und höchstwahrscheinlich dein Zuhause.“
Neugierig betrachtete ich das dichte Grün ringsumher, ohne etwas zu entdecken, das auch nur im Entferntesten einer Ansiedlung glich. Jedes Mal, wenn Irys auf unserem Weg in den Süden verkündete, dass wir ein weiteres Ziel erreicht hatten, fanden wir uns normalerweise mitten in einer kleinen Stadt oder einem Dorf wieder, mit Häusern aus Holz, Backstein oder Ziegeln, umgeben von Feldern und Bauernhöfen.
Die Einwohner, die allesamt farbenprächtige Kleider trugen, hießen uns gewöhnlich freundlich willkommen, gaben uns zu essen und lauschten unseren Erzählungen, während rings um uns ein wildes Stimmengewirr herrschte und uns die unterschiedlichsten Düfte in die Nase stiegen. Anschließend wurde in aller Eile die ein oder andere Familie herbeigerufen, und unter aufgeregtem Geschnatter wurde eines der Kinder aus unserer Mitte, das im Waisenhaus im Norden gelebt hatte, seinen Angehörigen zurückgegeben, von deren Existenz es überhaupt nichts gewusst hatte.
Auf diese Weise war unsere Gruppe nach und nach immer kleiner geworden, nachdem wir erst einmal das kalte nordische Klima hinter uns gelassen hatten und immer tiefer in das im Süden gelegene Sitia vordrangen. Und jetzt schwitzten wir in der drückenden Schwüle des Dschungels, in dem nicht der geringste Hinweis auf eine Stadt zu erkennen war.
„Heimstatt?“, fragte ich.
Irys seufzte. Aus ihrem straff zusammengebundenen Knoten hatten sich schwarze Haarsträhnen gelöst, und ihre strenge Miene passte nicht so recht zu dem schalkhaften Blitzen in ihren smaragdgrünen Augen.
„Yelena, der Augenschein kann trügen. Suche mit deiner Seele, nicht mit deinen Sinnen“, belehrte sie mich.
Mit meiner feuchten Handfläche rieb ich über den gemaserten Griff meines hölzernen Streitkolbens und konzentrierte mich auf die glatte Oberfläche. Mein Verstand wurde eine weiße Fläche, und das Summen des Dschungels verebbte, während ich mein Bewusstsein in andere Lebewesen hineinprojizierte. Plötzlich sah ich meine Umgebung durch die Augen einer Schlange, die auf der Suche nach einem sonnigen Platz durchs Unterholz glitt. Kurz darauf schwang ich mich mit einem langgliedrigen Tier in einer solchen Leichtigkeit durch das Geäst der Baumkronen, dass es mir vorkam, als ob wir flögen.
Immer noch in luftiger Höhe, bewegte ich mich unvermittelt inmitten von Menschen mit offenem und freundlichem Sinn, die sich darüber unterhielten, was sie zu Abend essen wollten, und über Neuigkeiten aus der Stadt diskutierten. Nur einer von ihnen machte sich Sorgen über die Geräusche, die von unten aus dem Dschungel heraufdrangen. Etwas war nicht in Ordnung. Ein Fremder hielt sich in der Nähe auf. Eine mögliche Gefahr. Wer ist in mein Bewusstsein eingedrungen?
Sofort war ich wieder ganz bei mir. Irys betrachtete mich aufmerksam.
„Sie leben in Bäumen?“, fragte ich.
Sie nickte. „Aber vergiss eines nicht, Yelena: Nur weil du in den Verstand von Menschen eindringen kannst, bedeutet das nicht, dass du ihre geheimsten Gedanken ausspionieren darfst. Das wäre ein Bruch unseres Ehrenkodexes.“
Ihre Stimme klang streng, die Meister-Magierin wies ihre Schülerin zurecht.
„Es tut mir leid“, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich vergesse immer wieder, dass du noch viel lernen musst. Höchste Zeit, dass wir die Zitadelle erreichen und endlich mit deinem
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