Die Heilanstalt (German Edition)
schrecklich belastete, für geistesgestört erklärt und sie auf unbestimmte Zeit in dieser Anstalt behalten.
So vertraute sie sich nun stattdessen Patrick an und fühlte sich selbst bei diesem freundlichen und aufgeschlossenen jungen Mann alles andere als wohl. Mit irgendwem musste sie aber reden, da sie ansonsten wohl in Kürze den Verstand darüber verlieren würde.
»Was ich dir gerade erzählt habe, ist ja alles wahr«, begann sie leise. »Ich weiß, dass mein Name Melanie Kahlbach ist und dass ich seit drei Jahren als Krankenpflegerin arbeite. Ich erinnere mich, dass ich mein Abitur gemacht und danach eine Ausbildung in einem Pflegeheim angefangen habe. Meine Familie, Freunde und Bekannten sind mir klar in Erinnerung; ich vergegenwärtige mir ihre Gesichter und sehe sie in allen möglichen Situationen: meinen kleinen Bruder, der draußen im Garten mit Charlie, unserem Chihuahua, spielt; meine Mutter, die über einem ihrer Puzzles mit Tausenden von Teilen sitzt; meinen Vater, der in einem dicken Wissensbuch der Kosmologie schmökert. Ich erinnere mich an unzählige Nachmittage und Abende, die ich mit Jenny, meiner besten Freundin, verbracht habe. Wir kennen uns seit dem Kindergarten!«
Melanie stockte und schüttelte den Kopf. Patrick hatte den Eindruck, sie hielte Tränen zurück. »All das ist mir so klar im Gedächtnis. Aber dieses Leben ist nicht das Einzige in meiner Erinnerung …«
Sie sah auf und blickte Patrick verzweifelt an. In ihren Augen blitzten Scham und Ängstlichkeit. Patrick kam ihr etwas näher und berührte sie am Arm, um sie zum Weitersprechen zu ermutigen.
»Dieses andere Leben ist mir ebenso real im Gedächtnis«, sagte sie. »Vielleicht noch realer. Aber es ist grundverschieden; dort bin ich eine völlig andere Person und lebe in einer ganz anderen Welt … einer schrecklichen Welt!«
Wie sieht sie aus, diese Welt? , wollte Patrick fragen. Aber er sah, dass Melanie mit den Tränen kämpfte und nicht fortfahren mochte; das Gesagte hatte sie bereits viel Kraft und Überwindung gekostet. Er nahm sie in den Arm, und sie drückte sich dankbar an ihn. Eine Zeit lang standen sie wortlos da und hielten einander fest.
»Ich habe Angst, verrückt zu sein«, hauchte sie schließlich mit bebender Unterlippe. »Aber noch größer ist meine Angst, dass ich es nicht bin.«
Durst und Schwindel
Unter gewöhnlichen Umständen wäre Patrick zu der Überzeugung gelangt, dass Melanie ein Mensch mit gespaltener Persönlichkeit war, in dessen Verstand zwei Leben miteinander konkurrierten. Die Schilderung einer »doppelten« Erinnerung deutete auf die Wahnvorstellung einer geistig erkrankten Frau hin. Doch Patrick wusste, die Umstände waren außergewöhnlich.
In dieser Heilanstalt ging nichts mit rechten Dingen zu, das hatte er von Anfang an bemerkt. Er hörte normalerweise auf die Stimme der Vernunft, die ihm schon oft einen zuverlässigen Realitätssinn eingeflüstert hatte. Doch diesmal erschien es ihm zu leicht, Melanies Äußerungen als Irrsinn abzutun; vielmehr fühlte er, dass etwas von Bedeutung dahinterstand. Die Welt des Sanatoriums war so unheimlich, dass alles möglich schien.
Paradox war schon der Umstand, dass Melanie in ihrer Erinnerung zwischen zwei Leben schwankte, gewissermaßen eins zu viel hatte, während ihm selbst eins fehlte. Denn noch immer – er musste es sich eingestehen – war in seinem Gedächtnis nur Dunkelheit, wenn er gedanklich in die Zeit vor seiner hiesigen Ankunft zurückkehren wollte.
Patrick nahm sich vor, Melanie in Kürze weitere Fragen zu stellen, auch wenn es ihr schwerfiel, über ihren Erinnerungszwiespalt zu reden. Das Gespräch musste fortgeführt werden, da er glaubte, dass Melanie mehr wusste, als sie ihm bisher gesagt hatte. Auf nicht genau bestimmbare Weise, weniger dem Verstand als dem Gefühl nach, ahnte er zudem, dass die Zeit drängte, dass sie beide und wohl auch die anderen Patienten in Gefahr waren und daher so bald wie möglich ein Verständnis über die sonderbare Lage gewonnen werden musste.
Während sie noch auf dem Sandweg zwischen all den Blumen, Sträuchern und Bäumen standen und sich fest im Arm hielten, sah Patrick sich zweifelnd um. Wie schön alles war; nicht nur dieser Wandelgarten, auch der Hof, der Zugang zu all den Unterhaltungsorten bot. Und doch erschauerte er vor der Gewissheit, dass diese Anstalt weder Fenster noch Ausgänge besaß, dass es schlicht keinen Weg in die äußere Welt, hinaus in die Freiheit gab, und alles
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