Die Heilanstalt (German Edition)
ganze Weile dachte er über diesen geheimnisvollen Sonderbereich nach, während ein gewisses Unbehagen ihn beschlich. Als sie vor jener Flügeltür anlangten, über der Wandelgarten geschrieben stand, wandte Patrick sich noch einmal um. Nur wenige weiße Gewänder spazierten über die Pflastersteine des Hofs, die meisten befanden sich noch im Speisesaal. Alles hier wirkte friedlich und ruhig, eine Atmosphäre des Wohlbefindens lag über diesem Ort. Und doch wirkte die Umgebung unecht, wenn man genau hinsah, wie eine Theaterkulisse. Mehr noch als diese Künstlichkeit spürte Patrick – unterschwellig, aber unbestreitbar – etwas Düsteres im Kern dieser Heilanstalt. Dieses Gefühl war so durchdringend, dass er Gänsehaut bekam. Er wurde auch blass im Gesicht, worauf Melanie ihn am Ellbogen berührte und sich nach seinem Befinden erkundigte.
»Ich weiß nicht. Ich …«
Melanie sah ihn mit einem flehenden Ausdruck an, als hoffte sie, er würde weitersprechen und ihr erklären, weswegen er sich so unwohl fühlte. Sie schien ihm anzusehen, dass er im Verborgenen etwas Schlechtes an diesem Ort verspürte, etwas jenseits dieser zutraulichen Kulisse, wovor man sich zu fürchten hatte. Sie mochte ebenso empfinden und sich insgeheim nach einem Menschen sehnen, dem sie sich anvertrauen konnte. Doch anstatt es auszusprechen, schüttelte Patrick nur den Kopf, als wollte er ihn von belastenden Gedanken befreien.
»Ach, nichts. Gehen wir.«
Melanie biss sich enttäuscht auf die Unterlippe. »Dann komm mit.«
Mit einer Hand drückte sie die Flügeltür zum Wandelgarten auf, während sie Patrick an der anderen Hand mitzog.
Der Wandelgarten
Die Größe des Gartens war eindrucksvoll; eine solche Naturlandschaft hatte Patrick beileibe nicht erwartet. Zunächst war gar nicht zu bemessen, wie weit die vielfältige Pflanzenwelt reichte, die sich als wahrer Urwald vor ihnen erstreckte. Nur die Decke war sichtbar, die sich wie in einer Kapelle halbkugelförmig über ihnen wölbte und am Mittelpunkt wenigstens zwanzig Meter hoch war. Wie in allen anderen Räumlichkeiten waren auch hier große Scheinwerfer installiert, die gleißendes Licht nach unten warfen. Außerdem gab es rauschende Belüftungssysteme.
Der Wandelgarten beherbergte offenbar Gewächse aus aller Herren Länder. Für die Gäste, die nicht viel von Botanik verstanden, waren vor den exotischen Bäumen, Sträuchern und Blumen kleine Informationsschilder aufgestellt. Sie bezeichneten die Gattungen mit kaum aussprechbaren Begriffen aus dem Lateinischen und gaben Auskunft über deren historische Entstehung sowie geografische Verbreitung.
Der Garten glich auf den ersten Blick einem Dschungel, doch bei genauer Betrachtung waren durchdachte Strukturen zu erkennen, die dem Besucher zur Übersicht verhalfen.
Melanie, die schon oft hier gewesen war, fand sich inzwischen mühelos zurecht. Doch sie erinnerte sich an das Erstaunen, das sie bei ihrem ersten Besuch ergriffen hatte, und prüfte nun Patricks Gesicht, ob er genauso empfand.
Patricks Augen wanderten herauf und herab, um die Umgebung so sorgfältig abzutasten, wie es ihr offenkundig gebührte. »Wirklich beeindruckend«, murmelte er.
Seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Pflanzenkunde waren beschränkt, sodass ihm die meisten der hier ausgestellten Exemplare fremd waren. Mit entsprechend lebhaftem Interesse betrachtete er die vielen fremdländischen Gattungen und erfreute sich an dem ästhetischen Gesamtbild, das diese zahllosen, in Form und Gestalt so verschiedenartig beschaffenen Gewächse gemeinsam zustande brachten. Am längsten blieb sein Blick an dem Baum haften, der im Zentrum dieses runden Gartens aufragte und mit seiner ausladenden, aus eigentümlich spitzen Blättern bestehenden Krone gar die Decke streifte. Aus dem Täfelchen am Fuße seines breiten Stammes ging hervor, dass es sich um einen Drachenbaum handelte.
»Ich verstehe nicht besonders viel von Pflanzen«, gestand Patrick. »Aber ich verstehe jetzt, warum du seit deiner Ankunft täglich hier gewesen bist. Dieser Wandelgarten ist riesig und wunderschön. Außerdem …«
Er wollte ergänzen, dass ihm der Eindruck gefiel, unter freiem Himmel zu sein. Aber er entschied sich letztlich dagegen. Dass die gesamte Heilanstalt unter der Erde begraben zu sein schien wie ein vermodernder Körper auf dem Friedhof, befremdete und erschreckte ihn. Es verstärkte sein ungutes Gefühl, dass etwas hinter dieser hellen Fassade lag, das gefährlich war. Natürlich
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