Die Herren von Everon
Mikey in seinem Zimmer geblieben.
Am Fuß der Rampe steckte er die Liste in die Tasche seines Jacketts. Er schritt auf den Salon zu und blieb unter dem Türrahmen stehen. Niemand im Raum schien seinen Eintritt bemerkt zu haben. Die Gäste standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich angeregt. Jefs besondere Empfänglichkeit, die sich durch sein Einzelgängertum und die im Laufe der Jahre entstandene empathische Verbindung mit Mikey verstärkt hatte, vermittelte ihm ein Gefühl von versteckten Dingen, von der Häßlichkeit einer drohenden Explosion, lauernd unter der Oberfläche des Geplauders im Saal. Tibur stand hinter einem Tisch, der in einer Ecke als Bar aufgestellt war. Mangels etwas Besserem, das er im Augenblick tun konnte, ging Jef hinüber.
„Und was möchten Sie gern trinken, Herr Robini?“ fragte Tibur.
„Irgend etwas. Was haben Sie in der Art von Bier da?“ erkundigte Jef sich.
„Sie könnten unser Everon-Stadt-Bier versuchen.“
„Gut“, antwortete Jef. „Danke.“
Er nahm ein hohes Glas mit einem bitteren Malzgetränk und einer dicken Schaumkrone in Empfang, trank einen Schluck, drehte sich wieder um und blickte über den Raum hin.
Das Bemerkenswerteste an den Leuten, die sich im Salon versammelt hatten, war, daß man sie kaum von einer ähnlichen Gruppe, die zu Hause auf der Erde ihre Cocktails trank, hätte unterscheiden können. Denn interessanterweise trugen die meisten dieser Kolonisten hier, Lichtjahre von der Erde entfernt, die neueste irdische Mode. Auf einer erst so kürzlich besiedelten Welt gab es dafür nur zwei Möglichkeiten. Die eine war, daß alle im Raum anwesenden Personen im letzten Jahr oder so auf der Erde gewesen und während ihres Aufenthalts die Chance gehabt hatten, ihre Garderobe auf den neuesten Stand zu bringen. Die zweite war das Vorhandensein eines schwarzen – oder zumindest grauen – Marktes für neumodische Kleidung, die anstelle der üblichen Ausrüstung und anderer Versorgungsgüter importiert wurde. Der Erde war es gleichgültig, was sie auf neue Welten wie diese sandte. Aber Jef hätte angenommen, daß es irgendwo außerhalb dieses Raums Kolonisten gab, deren Sorge mehr der Entwicklung ihres Planeten als der letzten Mode galt.
Abgesehen von der Tatsache, daß die hier Anwesenden als Gruppe schick – und nicht billig – gekleidet waren, schien ein weiterer gemeinsamer Nenner ein Alter zwischen Ende Zwanzig bis Ende Vierzig zu sein. Die Männer wie auch die Frauen – und ihre Anzahl entsprach sich in etwa – hatten ein gewisses tüchtiges, beinahe brutales Aussehen. Vielleicht, dachte Jef, der ihnen von dem Tisch mit den Getränken aus zusah, war das in Anbetracht der Positionen, die sie einnahmen, nur natürlich. Die Gästeliste, die er erhalten hatte, las sich wie ein Verzeichnis der Leute, die Everon kontrollierten. Es mochte wichtige Personen auf dieser Welt geben, die heute abend nicht anwesend waren. Bestimmt aber war niemand hier, der nicht wichtig war.
Doch ganz klar war auch, daß der eine, der sie alle an Status übertraf, Martin war. Anders als Jef, der es vorgezogen hätte, den ganzen Abend unbemerkt zu bleiben, schien Martin die ihm gezollte Aufmerksamkeit zu genießen. Einige Leute benahmen sich ihm gegenüber schon beinahe kriecherisch, aber Martin machte den Eindruck, als würde er es ernst nehmen. Sie halten ihn zum Narren, dachte Jef, und bei dieser Beobachtung stieg wieder die traurige Bitterkeit in seinem Inneren auf. Er bemerkte auch – und er nahm an, daß es Martin entging –, wie die ganze Versammlung unauffällig von dem Konnetabel dirigiert wurde. Dieser bewegte sich unaufhörlich auf leisen Sohlen zwischen den Gästen umher, warf hier eine Bemerkung, dort ein Lachen ein.
Martin war der Mittelpunkt einer kleinen Gruppe von sechs oder acht Leuten. Er teilte sich ein Sofa mit einer Frau, die Jefs Gästeliste als Yvis Suchi auswies, Chemikerin mit dem Fachgebiet organische Chemie und eines der Gründungsmitglieder der „Herren von Everon“. Sie war eine hochgewachsene, dünne Frau in den Dreißigern in einem fuchsienfarbenen Hosenanzug, mit schnellen Gesten, einem breiten Mund, schmalen Lippen und einer besonders tragenden Stimme, selbst dann, wenn sie zu versuchen schien, sie für eine vertrauliche Mitteilung zu dämpfen. In der einen Hand hielt sie ihr Glas, in der anderen eine Leine. Das andere Ende der Leine war an einem brillantenbesetzten Halsband befestigt, welches von einem lemurenartigen Geschöpf, nicht
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