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Die Herren von Hermiston

Titel: Die Herren von Hermiston Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Louis Stevenson
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Art seiner Kurzweil. Kirstie raste bei dieser Erkenntnis. Der brausende Quell ihrer leidenschaftlichen, reizbaren Natur sprudelte mitunter so unbändig, daß eine Eruption drohte.
    Dies ist der Preis, den wir für unzeitige Glut des Empfindens zahlen müssen. Sie hätte ihn zahlen müssen, wann immer die Umstände es erforderten; so aber geschah es, daß sie jener Wonne beraubt wurde gerade in der Stunde, da sie ihrer am meisten bedurfte, da sie am meisten zu reden und zu fragen hatte und vor der Erkenntnis zitterte, daß ihre Oberhoheit nicht nur im Schwinden, nein, am Ende gar aufgehoben sei. Denn mit der Hellsichtigkeit wahrer Liebe durchschaute sie das Geheimnis, das Frank so viel Kopfzerbrechen verursacht hatte. Sie ward sich, noch vor dem eigentlichen Eintreten des Falles, ja bereits an jenem Sonntagabend, da die Sache ihren Anfang nahm, einer Invasion ihrer Rechte bewußt, und eine innere Stimme verriet ihr den Namen der Siegerin. Seither hatte sie sich durch kleine Kniffe, durch Zufälligkeiten, durch Beobachtungen von nebensächlichen Dingen und durch die allgemeine Färbung von Archies Laune Gewißheit, über allen Zweifel erhaben, verschafft. Mit einem Gerechtigkeitssinn, um den Lord Hermiston sie hätte beneiden können, hatte sie an jenem Tage in der Kirche die Reize der jüngeren Kirstie abgeschätzt und gewürdigt, und mit der tiefen Menschlichkeit und Sentimentalität ihrer Natur vernahm sie den Schritt des Schicksals. Nicht so hätte sie gewählt. Sie hatte Archie in ihrer Phantasie mit irgendeiner hochgewachsenen, stolzen und rosigen Heldin mit goldenen Locken vermählt, geschaffen nach ihrem eigenen Bilde, der sie mit Entzücken das Brautbett bestreut haben würde; und sie hätte über das Scheitern ihrer ehrgeizigen Träume weinen mögen. Jedoch die Götter hatten gesprochen; das Urteil lautete anders.
    Unruhig, von fieberhaften Gedanken bestürmt, wand sie sich in jener Nacht auf ihrem Lager. Gefährliche Dinge standen bevor, eine Schlacht, über deren Ausgang sie mit Sympathie, Furcht und wechselnder Parteinahme für die eine oder die andere Seite eifersüchtig brütete. Jetzt fühlte sie sich wiedergeboren in ihrer Nichte, jetzt in Archie. Jetzt sah sie durch des Mädchens Augen den Jüngling vor sich knien, vernahm in tödlicher Schwäche sein hartnäckiges Flehen und empfing seine überwältigenden Liebkosungen. Und im nächsten Augenblick, in plötzlicher Umkehr ihrer Natur, raste sie bei dem Gedanken, jene höchsten Gaben des Geschicks und der Liebe an ein Balg von einem Mädchen verschwendet zu sehen, an ein Wesen ihres eigenen Hauses, das ihren eigenen Namen sich anmaßte – dies war eine tödliche Kränkung –, an jemand, »die selbst nicht wußte, was sie wollte, und die so schwarz war wie ihr eigener Hut!«. Und wieder zitterte sie vor Angst, daß ihr Idol vergeblich flehen könnte, denn sie sehnte den Erfolg als eine Art Triumph der Natur für ihn herbei; und im darauffolgenden Moment, mit wiederauflebender Treue für ihre eigene Familie und ihr Geschlecht, zitterte sie um Kirstie und um den guten Ruf der Elliotts. Endlich erblickte sie visionär sich selbst; die Zeit für ihre altmodischen Geschichten, für ihren Dorfklatsch war vorüber, auf ewig sagte sie dem Glanz der Liebe und des Lebens Lebewohl, und dahinter, in der Ferne, kroch sie, um zu sterben, dem düsteren, allmächtigen Ende zu. Hatte sie den Becher wirklich bis zur Neige geleert, sie, die sie so groß, so schön war, mit einem Herzen frisch wie das eines Mädchens und stark wie bei einem Weibe? Eskonnte nicht sein, und doch war es so; einen Augenblick lang war ihr Bett ihr furchtbar wie die Mauern des Grabes. Vor ihr dehnte sich die Wüste der Stunden, in der sie rasen und zittern würde, bis der Tag anbräche und die Arbeit des Tages erneuert werden müßte.
    Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe – seinen Schritt; bald danach wurde ein Fenster aufgestoßen. Sie setzte sich klopfenden Herzens aufrecht. Er war allein in seinem Zimmer, und er war nicht zu Bett gegangen. Eines ihrer nächtlichen Gespräche winkte ihr, und bei diesem bezaubernden Ausblick ging eine Veränderung in ihr vor; mit dem Nahen jener Hoffnung auf Freude schwand auch sogleich alles Niedrige aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, ganz Weib, das Weib in seiner reinsten Gestalt, zärtlich, mitfühlend, voller Haß gegen alles Böse und treu ihrem eigenen Geschlecht – und doch mit allen Schwächen dieses geliebten und komplizierten Wesens,

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