Die Herrin der Pyramiden
Sonnenhof und hielt für ihn die Schale, in der sich die Kupferbarren und Goldringe häuften.
Die Gläubigen näherten sich ehrfürchtig dem im Sonnenhof aufgestellten Schrein mit der Barke des Ptah, die am Vortag durch die Straßen von Mempi getragen worden war. Viele hatten an diesem Tag kleine Ptah-Statuen bei sich, die sie durch die Gottesdiener weihen ließen. Gegen ein geringes Entgelt nahmen die Priester die Statuen entgegen und brachten sie ins Allerheiligste, wo sie diese weihten und dann zu ihren wartenden Besitzern zurückbrachten.
Immer wieder verschwand Sethi mit einer oder zwei kleinen Figuren aus Holz oder Ton im Allerheiligsten und kam zurück. Die Statuen waren dann in weiße Leinentücher gewickelt.
»Sethi, was hat der König gestern Abend im Allerheiligsten getan?«
»Er hat Atum-Re zum Obersten Gott des Reiches erkoren, und das hat er gestern Abend Ptah im Gebet mitgeteilt. Ptah scheint die Oberherrschaft des neuen Gottes anerkannt zu haben, denn er akzeptierte die rituellen Handlungen durch den König, den Hohepriester des Atum.«
»Seneferu ist Hohepriester des neuen Gottes?«, fragte ich überrascht.
»Er hat sich selbst dazu ernannt.«
»Wann wird der Tempel des Atum fertig gestellt sein?«
Sethi zuckte mit den Schultern. »Die Fundamente sind gelegt, glaube ich. Ich war lange nicht draußen.« Mit draußen meinte er die Welt außerhalb des Tempels.
»Gehst du nie nach draußen, Sethi?«
»Nein, was soll ich da?«
Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Aber ich wusste, was ich dort wollte: Ich wollte das Leben suchen, die Liebe, das Glück, die Freude und die Zufriedenheit, die ich im Tempel nicht finden konnte. Ich wusste, ich würde in meinem Leben niemals an die Oberfläche gelangen, um das Licht zu sehen, wenn ich nicht fest an mich glaubte und bereit war, gegen die Strömung des Lebensflusses, die mich fortzureißen drohte, anzukämpfen. Immer wieder. Ohne müde zu werden.
Ich fühlte mich im Tempel eingesperrt und fragte mich, ob mir die Weihe zur Priesterin überhaupt Erfüllung geben konnte. Die Initiation zur Gottesdienerin würde bedeuten, dass ich den Tempel nur noch selten verlassen könnte. Also beschloss ich, Schreiber zu werden, und malte mir meine Zukunft in allen Farben aus, die Träume haben können.
Kemet war ein streng zentral geführter Staat, der über eine äußerst effektive Verwaltung in den Tempeln, den Palästen der Gaufürsten und den Ministerien der Hauptstadt verfügte. Die Grundkenntnisse der Schreiberausbildung hatte ich mir in der Tempelschule bereits angeeignet, die Priesterwürde Ersten Grades würde ich in einem Jahr erlangen. Nach der Priesterweihe wollte ich den Tempel verlassen, um mir eine Position zu suchen. Vielleicht würde ich Schreiber bei einer reichen Dame werden mit umfangreicher Korrespondenz im ganzen Land? Oder vielleicht würde mich ein Kaufmann einstellen, der in den Fremdländern Handel trieb.
Als Sethi mich fragte, aus welchem Grund meine Leistungen in der Tempelschule von einem Tag auf den anderen sprunghaft anstiegen, antwortete ich ihm: »Ich will Schreiber werden.«
»Der Beruf des Schreibers wird vom Vater auf den Sohn vererbt«, schüttelte er den Kopf. »Du kannst nicht Schreiber werden.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil du eine Frau bist. Frauen werden nicht Schreiber.«
»Aber es ist doch nicht verboten! Es hat schon Frauen gegeben, die Schreiber waren.«
»Ja, das ist wahr. Ganz besonders privilegierte und begabte Frauen hatten in der Vergangenheit das seltene Glück, die Prüfungen zu bestehen und Schreiber zu werden. Aber es waren nur zwei in den vergangenen hundert Jahren.«
»Dann werde ich die Dritte sein!«, nahm ich mir vor.
Sethi sah mich nachdenklich an. »Wenn es jemand schaffen kann, dann du, Nefrit!«
Noch am gleichen Tag informierte ich die Tempelverwaltung darüber, dass ich meinen Ausbildungsgang ändern wollte. Angesichts der ungläubigen Gesichter zweier Tempelschreiber trug ich mich aus der Liste der Kandidatinnen aus, die Priesterin Fünften Grades werden wollten, und schrieb meinen Namen in eine kürzere Liste von Schülern, die die Ausbildung zum Schreiber absolvierten. Als ich die Namen durchsah, stellte ich fest, dass nur junge Männer den Unterricht besuchten.
Am nächsten Morgen brachte mich Sethi zu Niuser und verabschiedete sich von mir. Sethi war zuständig für den Lehrgang zum Priester Ersten Grades, nicht für den Ausbildungsgang zum Schreiber. Niuser war
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