Die Herrin der Pyramiden
Schamanenspiegel, Mistelzweige, Büschel von getrocknetem Thymian, der einen würzigen Duft nach dem Gras der Herbststeppe verbreitete. Das Bettzeug war nicht zusammengerollt, die Filzdecken lagen zerwühlt entlang der Jurtenwand.
Plötzlich begann der Schamane zu zittern, als stünde er mitten in einem Eissturm. Er verzog das Gesicht, als ob er Schmerzen hatte. Ein grauenvoller Laut, ein Stöhnen, ein Schrei entrang sich seiner Brust. Sprach er mit seinen Geistern? In diesem Augenblick brach Kökschu in seiner sitzenden Position zusammen. Er stürzte wie betrunken zur Seite und wäre beinahe in das Feuer gefallen. Sein Kopf schlug hart auf dem Boden auf.
Ich zog ihn vom Feuer weg und drehte ihn auf den Rücken. Mit weit offenen Augen starrte er an mir vorbei an das Jurtendach. Er sah mich nicht. Wieder dieses grauenvolle Stöhnen. Neben dem Eingang der Jurte hing der Schlauch mit Airag. Ich opferte einige Tropfen den Geistern, dann ließ ich einen dicken Strahl der Stutenmilch direkt in Kökschus Mund laufen. Zuerst zeigte der Schamane keine Reaktion, doch dann begann er zu schlucken. Sein Geist kehrte aus der Unendlichkeit in seinen Körper zurück und er begann zu husten. Sofort setzte ich den Schlauch ab und verschloss ihn sorgfältig.
»Wacht auf, Kökschu!«, flüsterte ich.
»Ich bin wach«, hustete der Schamane. »Ich habe vielleicht ausgesehen, als habe ich geschlafen, aber ich war wach. Wenn auch nicht hier.«
»Nicht hier?«
»Was tust du hier, Temur?«, fragte Kökschu atemlos.
»Ich wollte Euch etwas fragen ...« Ich war nicht mehr so sicher, ob ich das noch wollte. Konnte er mir meine Frage überhaupt beantworten? Die Frage, die mich seit Wochen quälte. Die Frage, die mein Freund Jesutai mit einer unbedachten Bemerkung aufgewirbelt hatte wie der Herbststurm die Blätter.
Kökschu wartete ab, ob ich den Satz beendete. Dann zog er den Schlauch mit Airag zu sich heran und nahm einen tiefen Schluck. »Hast du es dir anders überlegt? Willst du jetzt nichts mehr fragen?«
»Ich ... nein.« Ich erhob mich und wollte die Jurte verlassen, aber Kökschu hatte meine Hand ergriffen und zog mich zu sich heran.
»Ich kann deine Gedanken lesen, Temur«, sagte er und ich schrak zusammen. »Du hältst mich für besessen«, fuhr Kökschu unbeirrt fort und sah mir tief in die Seele, als wollte er mich mit seinen eisblauen Augen bannen. »Du irrst nicht, Temur. Ich
bin
besessen. Ich spreche mit den Geistern, ich kann sie hören. Ich kann Dinge sehen, die andere Menschen nicht sehen können. Ich weiß, was du mich fragen willst.«
Meine Selbstbeherrschung war geschmolzen wie der Schnee unter der Frühlingssonne. Ich machte einen Schritt von ihm weg. Und noch einen. Und noch einen. Dann stand ich im Jurteneingang. Nur einen Schritt noch und ich wäre in Sicherheit!
»Wir sehen uns morgen«, sagte Kökschu zum Abschied.
Lesen Sie weiter:
Barbara Goldstein – Der Sohn des Himmels und der Erde
Als Taschenbuch bei Amazon
Lesen Sie auch ...
Lara Myles – Lachen mit Tränen in den Augen
Als Taschenbuch bei Amazon
Darf man lieben, wenn man stirbt?
Aus Kalifornien und Australien sind sie auf die Trauminsel Tahiti gekommen, um Abstand zu ihrem Leben zu gewinnen: Shainee, die junge Kalifornierin, die nach einer schweren Krankheit mutig und taff ihren Weg zurück ins Leben sucht, der Australier Tim, der schmerzlich seinen kleinen Sohn vermisst. Beide haben ihre Partner verloren, beide suchen nach einem Neuanfang, als sie sich Herz über Verstand ineinander verlieben. Da erreicht Shainee ein tragischer Anruf, der ihr und Tim zeigt, was im Leben wirklich wichtig ist. Hin und her gerissen zwischen ihren Gefühlen und dem, was die Vernunft ihnen gebietet, stehen beide am Ende vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens ...
Lara Myles – In Gedanken bei dir
Als Taschenbuch bei Amazon
Der letzte Wunsch eines sterbenden Kindes: Ich will Daddy umarmen! Der kleinen Jolie bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Fünfjährige stirbt an Leukämie. Ihre letzten Tage verbringt sie in einem Medical Center in San Francisco. Ihr größter Wunsch: Sie will ihren Daddy umarmen, bevor sie stirbt. Aber wo ist Alex Lacey?
Jolies Mutter Cassie, Unterwasserarchäologin bei der UNESCO, macht sich auf die Suche nach ihrem Ex Alex, der als Geologe für das US Geological Survey am Mount St Helens forscht. Nach Jahren der Trennung hat er vor wenigen Tagen die Scheidung
Weitere Kostenlose Bücher