Die Herrin der Pyramiden
Lesen und Schreiben, was die meisten meiner Mitschüler noch nicht beherrschten. Ein Priester lehrte uns Mathematik, ein weiterer die Grundzüge der Architektur sowie der bildenden Künste wie Malerei, Reliefkunst, plastische Kunst und noch ein anderer versuchte selbst den Unbegabtesten das Musizieren mit Trompeten, Sistren, Schellen und Trommeln beizubringen. Die Mädchen hatten zusätzlich noch Übungsstunden in Tempeltanz, während die Jungen sich handwerklich als Steinmetze betätigten. Die Unterrichtsstunden bestanden jeweils aus einer Fachrichtung am Vormittag und einer anderen am Nachmittag.
Während der Mittagszeit, der Zeit des Gebetes im Tempel, saßen wir still in unseren Kammern. Die Lehrtätigkeit der Diener des Ptah ging bis zum frühen Abend, bis die Abendriten durchgeführt wurden.
Der Priester, der uns Mathematik lehren sollte, hatte an der Tempelschule des Ptah studiert. Er versprach, sich dafür einzusetzen, dass wir an der Welt der Zahlen unser Vergnügen haben würden. In dieser ersten Unterrichtsstunde zwischen Mittagsruhe und den Abendriten versuchte der Gottesdiener, gelangweilten Schülern die Zahlzeichen beizubringen. Die meisten meiner Mitschüler konnten bisher weder lesen noch schreiben, und auch die Zahlen waren ihnen unbekannt.
Da ich bereits mit dreizehn Jahren Berechnungen an der Pyramide vorgenommen hatte, langweilte ich mich und zeichnete mit meinem Pinsel eine Pyramide auf die Tonscherbe, während die anderen mühsam eine gerade Linie nach der anderen zogen, einen Bogen, eine Schleife.
Ich war so vertieft in meine Pyramidenzeichnung, dass ich nicht bemerkte, wie der Lehrer hinter mir stehen blieb, um meine Skizze zu betrachten. Dann fuhr sein Stock auf meine Hände nieder. Mehr aus Überraschung als aus Schmerz ließ ich meinen Pinsel zu Boden fallen. Die Tintenschale kippte um, und die schwarze Tinte lief über das Schreibbrett auf meinen Knien.
»Was tust du da?«
»Ich zeichne.«
»Wir haben keine Zeichenstunde, sondern Zahlenkunde. Schreib wie alle anderen auch die Zahlen eins, zehn und hundert auf deine Scherbe.«
»Ich kann die Zahlen bereits lesen und schreiben. Bis eine Million.« Ich nahm mir eine neue Scherbe aus dem Korb vor mir, tauchte meinen Pinsel in Khais Tintenschale und begann zu malen. Ich konnte nicht sehen, was er hinter mir tat, und so verhielt ich mich still. Dreißig Augenpaare waren auf mich gerichtet.
In diesem Augenblick schlug er mit seinem Stock zu. Er traf meinen Rücken. »Du bist hochmütig, Nefrit! Du willst im Mittelpunkt stehen. Du bist hier, um zu lernen, und nicht, um mit deinen Kenntnissen vor deinen Mitschülern anzugeben! Du verstößt gegen die achtzehnte Regel!« Seine Stimme klang laut wie der Donner der nächtlichen Gewitter über der Oase von Pihuni.
Ich hob die Arme und fing die stärksten Schläge seines Stocks ab.
Die Erziehungsmethode der Tempelschule, die schlechte Leistungen ignorierte, mittelmäßige Leistungen belohnte und gute Leistungen mit dem Rohrstock bestrafte, statt sie weiter zu fördern, machte mich aufsässig.
Ich wurde oft geschlagen. Weil ich während des Mathematikunterrichts bautechnische Berechnungen vorgenommen hatte. Weil ich während des Schreibunterrichts ein Buch von Neferefre, das ich in der Bibliothek des Tempels entdeckt hatte, gelesen hatte. Weil ich während der endlosen Liturgien die Reliefs an den Tempelwänden skizziert hatte, die nicht den Regeln des Imhotep entsprachen. Der geniale Bauleiter des Djoser hatte genaue Proportionsvorschriften für das Zeichnen von Menschen und Göttern hinterlassen. Ein Quadratnetz, das auf die Wand aufgebracht wurde, diente zur Festlegung der absoluten Proportionen des menschlichen Körpers. Entsprechend dem alten Kanon maß der Mensch achtzehn Quadrate von den Fußsohlen bis zur Stirn, die Quadratgröße entsprach einer Faust oder eineindrittel Handbreiten. Davon liefen sechs Quadrate von den Füßen bis zu den Knien, weitere fünf Quadrate bis zum Gürtel, nochmals fünf Quadrate bis zu den gedrehten Schultern und drei weitere bis zum Scheitel des Dargestellten. Auch die Form der Darstellung war vorgeschrieben: Männer mit vorgestelltem Bein, Frauen im Stand, Männer mit brauner Hautfarbe, Frauen in Ocker. Der Netjer war immer größer als die anderen Dargestellten, es sei denn er stand vor den Göttern.
Und ich wurde geschlagen, weil ich mich gegen die Schläge wehrte.
Iya vibrierte vor Anspannung wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon
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