Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
dunkle Seite des wunderschönen Bauwerks.
Der Kreml gibt den Blick frei auf vier Konstanten russischer Geschichte. Sie sind auch für Touristen bei einem Schnelldurchgang durch diese größte noch benutzte Festungsanlage Europas auf Anhieb zu erkennen:
Herrscher und Beherrschte lebten und leben in Russland in radikal voneinander getrennten Welten.
Die Nähe von weltlicher Macht und orthodoxer Kirche verleiht den Kremlherrschern etwas Sakrales.
Die Vorliebe der Russen für Monumentales grenzt an Größenwahn und kaschiert ein Minderwertigkeitsgefühl.
Luxus und Verschwendungssucht entspringen auch dem Wissen, dass die Geschichte schon mal für jähe Wendungen sorgen kann, die alles heute Zusammengeraffte über Nacht verlorengehen lassen.
Gleich hinter dem Borowizki-Turm, einem der beiden für Touristen zugänglichen Kremleingänge, funkeln in der Rüstkammer goldene Kelche, Ikonen, Armreife und Knöpfe, die fünf Zentimeter groß sind. Den Diamantenthron Zar Alexejs I. (1645 bis 1676) zieren mehr als 900 Edelsteine. Er war das Geschenk einer armenischen Handelsgesellschaft, die sich dafür erkenntlich zeigte, dass der Zar ihr abgabefreien Handel auf russischem Territorium gestattete. Sollten selbst die Zaren bereits einen Sinn für Vorteilsnahme im Amt gehabt haben? Die Tradition, Ämter und Pfründe zu verknüpfen, geht unstrittig auf sie zurück. Heute sind Minister und hohe Beamte nicht selten über Verwandte, Strohmänner und Firmen auf sonnigen Inseln an lukrativen Geschäften beteiligt, so sehr, dass ein leitender Kremlbeamter öffentlich von einer »Offshore-Aristokratie« im Lande sprach.
Ausländische Gäste hat die Pracht des Moskauer Hofs immer wieder überrascht. Auf den Kopfbedeckungen von Zar Iwan IV. und seinem Sohn »loderten hühnereigroße Rubine«, wie 1576 Hans Kobenzell notierte, der Botschafter des deutschen Kaisers. »Im Leben habe ich nichts Wertvolleres und Schöneres gesehen. Ich kenne Krone und Schmuck seiner Katholischen Majestät und des Herzogs der Toscana, sah viele Reichtümer des Königs von Frankreich und seiner Kaiserlichen Hoheit sowie der Königreiche Ungarn und Böhmen. Glaubt mir, dass jene sich nicht im geringsten mit dem messen können, was ich hier erblickte«, schrieb der Diplomat.
Als 1742 Zarin Elisabeth (1741 bis 1762) in der Uspenski-Kathedrale im Kreml gekrönt wurde, trug sie einen Mantel mit handgeklöppelter Silberspitze und einer fünf Meter langen Schleppe. Ihre Verschwendungssucht ging so weit, dass sie kein Kleid zweimal anzog. Bei ihrem Tod hinterließ sie »15000 Kleider, zwei Kisten mit Strümpfen und einen Haufen unbezahlter Rechnungen«, stellte der Historiker Wassilij Kljutschewski fest. Katharina die Große, selbst dem Luxus zugetan, sah sich alsbald zu einem Erlass genötigt, der die Ausgaben für Hofgarderobe beschränkte. Demnach durften Gold- und Silberspitzen auf den Röcken eine Breite von neun Zentimetern nicht überschreiten.
Auf einen ähnlichen Ukas warten die Kritiker der modernen, neukapitalistischen Hauptstadt vergeblich. Beim Winterpolo vor den Toren Moskaus findet der eigentliche Wettbewerb nicht auf dem Spielfeld statt, sondern unter den Zuschauern. Wer hat den teuersten Pelzmantel, wer kommt mit den meisten Leibwächtern, wer hat den neuesten Ferrari mit Winterreifen? Viele Frauen sind auch ohne Stiefel 1,75 Meter groß. Sie überragen ihre kahlen Kavaliere meist um Haupteslänge, sind dafür aber nur halb so alt. Zu den Preisen der Uhren an den Handgelenken der Männer können auch Motorboote oder Mittelklassewagen erworben werden.
Gleich hinter dem zweiten, öffentlichen Kremleingang am Dreifaltigkeitsturm steht vor der Zwölf-Apostel-Kirche die »Zar Puschka«, die Zarenkanone aus dem 16. Jahrhundert. In Russland gilt damals wie heute: Wenn schon bauen, dann bitte groß. Und wenn schon groß, dann bitte größer als alles bisher Dagewesene. Das Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet die Zarenkanone bis heute als größte Haubitze der Welt. Das Ungetüm ist 5,30 Meter lang und 40 Tonnen schwer. Eine Inschrift verrät ihren Urheber, den »rechtgläubigen und Christus liebenden Zaren und Großfürsten Fjodor Iwanowitsch«, der von 1584 bis 1598 als Nachfolger Iwans »des Schrecklichen« herrschte.
Die Kanone freilich kam nie zum Einsatz, diente aber offenkundig späteren Kremlherren als Vorbild für andere ambitionierte Rüstungsprojekte. Anfang der sechziger Jahre versuchte KPdSU -Generalsekretär Nikita Chruschtschow die
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