Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Sie ist 2235 Meter lang und mit 1045 Zinnen bewehrt, hat aber nur selten der Verteidigung gedient. Moskau fiel kampflos in die Hände Napoleons, ehe die Franzosen ihren verlustreichen Rückzug antreten mussten.
Wie jede Mauer hat die Kremlmauer einen doppelten Effekt: Von draußen bleibt verborgen, was dahinter vorgeht, und umgekehrt. Nicht der offene politische Wettbewerb, sondern byzantinische Hofintrigen entscheiden in Russland über den Zarenthron. Deshalb sind bis heute die Umstände unklar, wann, wie und wo Wladimir Putin seinen Vertrauten Dmitrij Medwedew zum Interimspräsidenten erkor, um ihn alsbald wieder abzulösen. Die hohen Mauern aber verstellen den Blick der Herrschenden auf ihr eigenes Volk. Die jüngste Protestwelle im Dezember 2011 hat den Kreml und seine Polit-Berater deshalb kalt erwischt. Dass ausgerechnet die von der Stabilität der Putin-Jahre profitierende Mittelschicht nun auf die Straße geht und wirkliche politische Mitsprache verlangt, hatte sich trotz Warnungen aus den Sicherheitsdiensten kaum jemand vorstellen können.
Gern sonnen sich die Kremlherren im Glanz der Prunksäle, in denen sie ausländische Staatschefs empfangen. Sie leben womöglich in dem Gefühl, dass die goldenen Kuppeln der Gotteshäuser am Kathedralenplatz ihnen etwas Unantastbares verleihen, beinahe so wie die Zaren, die sich früher als Beauftragte Gottes verstanden. »Über Moskau thront der Kreml, und über dem Kreml ist nur Gott«, besagt ein russisches Sprichwort.
Einer der Führer der außerparlamentarischen Opposition, der sinnenfrohe Vize-Premier a. D. Boris Nemzow, spricht aus männlicher Erfahrung: »Normalerweise wirkt der Kreml auch auf die Schwächsten wie politisches Viagra. Selbst wenn impotente Amtsträger in den Kreml einziehen, verspüren sie eine politische Erektion.« Nur bei Dmitrij Medwedew schien sie auszubleiben. Obwohl er gern im Kreml geblieben wäre, räumte er seinen Platz für seinen politischen Ziehvater Putin nahezu kampflos. Hätte er sich anstecken lassen von der Kraft des Kreml, hätte Russlands Schicksal womöglich einen anderen Weg genommen. Dann hätte er hinüberspazieren können zu den Zehntausenden Demonstranten, hätte das Mikrofon ergreifen und die gefälschten Parlamentswahlen annullieren können. Dann wäre er ein Zar gewesen, so blieb er ein Beamter.
Der Milliardär Michail Prochorow, der nun von den Polit-Beratern des Kreml ausersehen ist, als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen die murrende Moskauer Mittelschicht wieder einzufangen, sagt über den Kreml: »Er übt einen schlechten Einfluss auf die Menschen aus, die in ihm sitzen.« Prochorow schlägt deshalb vor, dem Präsidenten einen neuen Arbeitsplatz außerhalb des Stadtzentrums zu suchen und den Kreml vollständig in ein Museum zu verwandeln. Als ob es so einfach wäre, sich aus dem Schatten der Vergangenheit zu lösen.
»Putin ist ein Zar«
Wer die heutige Politik in Russland beobachtet,
entdeckt viele Parallelen zu längst vergangenen Zeiten.
Warum das so ist, erklärt der Historiker und
Politologe Alexander Rahr.
Das Gespräch führten
Uwe Klußmann und Dietmar Pieper.
SPIEGEL : Der russische Präsident, der jetzt wieder Wladimir Putin heißt, residiert im Kreml, dem alten Moskauer Machtzentrum. Wenn er eine Weisung erteilt, ist das ein »Ukas« wie zur Zarenzeit. Wie zaristisch ist Russland heute?
RAHR : Putin ist ein Zar, und er sieht sich wie ein Zar. Am Anfang war das noch anders. Ich hatte zu Beginn seiner ersten Amtszeit als Präsident im Jahr 2000 die Gelegenheit, drei Stunden mit ihm zu Abend zu essen. Er sprach davon, Russland sei ein Land mit schrecklichen autoritären Traditionen. Dies könne man ändern, wenn auch langsam. Sein Kernsatz war: Ich, Wladimir Putin, denke modern und will, dass das Präsidentenamt nach meiner Regierungszeit auf demokratische Weise den Besitzer wechselt.
SPIEGEL : War Demokratisierung damals wirklich sein Ziel?
RAHR : Es wirkte überzeugend, was er sagte. Aber seitdem sind zwölf Jahre vergangen, die ihn sicher sehr verändert haben. Aus Sicht des Historikers ist das keine große Überraschung. Denn Machtwechsel in Russland sind nie in geordneten Bahnen verlaufen, fast nur mit Gewalt. Wer abtrat, wie Nikolai II. , konnte seines Lebens nicht mehr sicher sein. Personifizierte Macht war und ist in Russland etwas Sakrales, das mehr wiegt als Institutionen. Deshalb kommt es eigentlich nicht in Frage, sie freiwillig abzugeben. Wer dies dennoch tut, wird von den
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