Die Hexe von Paris
dazu, den Geist zu versklaven. Sieh dir nur deine Schwester an – ein hohlköpfiger Fratz. Sie stickt, klimpert ein wenig auf dem Klavichord und weiß zwei Dutzend Gebete auswendig. Ihr Verstand ist ausschließlich durch das Lesen von Romanzen geformt. Und dein Bruder prägt sich juristische Präzedenzfälle ein. Er lernt Präzendenzien statt Logik und Gesetze statt Tugenden. Nein, da ist es viel besser, von den Römern zu lernen.« Und so wurde ich nach dem ausgeklügelten Plan meines Vaters von einer Reihe hungerleidender Abbés und mittelloser Studenten unterwiesen, die mit Mahlzeiten entgolten wurden, bis ich über genügend Wissen verfügte, um mit ihm über die Römer und insbesondere über seine geliebten Stoiker zu diskutieren. Die meisten meiner Tutoren verliebten sich in meine Schwester und waren nur unter großen Mühen von ihr fernzuhalten, aber davon merkte Vater nichts.
Bald schon gestalteten sich meine Tage zu einem angenehmen, wenngleich für ein Kind ungewöhnlichen Verlauf. Vormittags studierte ich, was immer meinen gegenwärtigen Tutor interessierte: Bruchstücke von Descartes, der sagte, unser Denken müsse methodisch sein, die Beweisfrage in der Geographie, die Vorstellung der Epikureer, daß wir immer Glück anstreben sollen, oder die Idee, Gott habe die Welt präzise wie eine Uhr geschaffen, dann sei er fortgegangen und habe sie vergessen.
Nachmittags schmeichelte ich mich bei meiner Mutter ein, indem ich vertrauliche Botengänge für sie besorgte. Sie schenkte mir drei Unterkleider, aus denen meine Schwester herausgewachsen war, einen alten Kamm sowie das Versprechen eines neuen Kleides zu Weihnachten, wenn ich ihre Geheimnisse für mich behielt. Bei meinen nachmittäglichen Besorgungen erfuhr ich, daß unsere Köchin bei dem Parfümeur, der die Faltensalbe meiner Mutter zusammenrührte, Liebestränke kaufte. Ich entdeckte, daß das Gold in Mutters Haar aus einem grünen Fläschchen stammte und daß sie heimlich mit dicken wächsernen Petschaften versehene Briefe empfing. Ich fand heraus, wo es die besten verbotenen Flugschriften für Großmutter zu kaufen gab und wie man falsche von echten Münzen unterschied. Ich lernte Wechselgeld zählen und mir den Weg durch das Maraisviertel zu bahnen, ohne von Kutschen zermalmt zu werden, und mich in der Menge unsichtbar zu machen, so daß ich nicht verfolgt werden konnte. Es war keineswegs eine Erziehung, wie sie einer jungen Dame aus guter Familie anstand, die außer Haus niemals ohne Begleitung gesehen werden sollte. Aber mein mißgestaltetes Äußeres und meine ungezügelten Manieren nahmen mich von allen Regeln aus, so wie sie mich auch nicht in den Genuß der Vergünstigungen meiner Geburt kommen ließen.
Abends, wenn Mutter den ergötzlichen Monsieur Courville oder den göttlichen Marquis de Livorno, den charmanten Chevalier de la Rivière oder einen anderen Wichtigtuer zu Gast hatte, diskutierte ich mit Vater über die Römer. Ich liebte es, wie er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme vorlas und dann über seine kleine Lesebrille lugte, um eine Bemerkung über den Text zu machen. Danach zeigte ich ihm das wenige, was ich am Vormittag gelernt hatte, und wurde mit seinem schmallippigen, ironischen Lächeln belohnt. Es war ein wunderbarer Tageslauf; ich wollte kein anderes Leben.
KAPITEL 2
M ademoiselle, hast du das Fläschchen aus der Galerie auf meine Frisiertoilette gestellt?« Mutter hielt ihren Morgenempfang. Nichts Großartiges nach höfischem Ermessen, denke ich, dennoch warteten ihr heute mehrere Bediente in ihrem Schlafgemach auf, dazu mein neuester Tutor sowie ein Mann, den sie beauftragt hatte, Marie-Angéliques Porträt en miniature zu malen. Ich erinnere mich gut an diesen Tag. Es war einer der ersten sonnigen Tage im Frühjahr 1671; ich war im Winter gerade zwölf geworden.
»Ja, Mutter, ganz hinten, beim Spiegel. Seht Ihr es?« Mutter sah argwöhnisch zu der Stelle hin und drehte sich so plötzlich um, daß die Zofe, die ihr die Haare bürstete, die Bürste fallen ließ.
»Und das Wechselgeld? Hast du alles mitgebracht?« Ich gab es ihr, und sie zählte es sorgfältig nach, bevor sie es in der Schublade ihrer Frisiertoilette verschloß. Ich sagte ihr nicht, daß ich das Parfüm gestern nachmittag auf dem Heimweg ausprobiert hatte. Längst konnte ich eine Phiole wieder so versiegeln, daß man nicht erkannte, daß sie geöffnet worden war. Mutter würde »Affenhände« sagen, wenn sie es gewußt hätte. Die Frau in der Parfümerie
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