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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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mir klar, daß, wenn es an Schönheit und Liebreiz gebrach, Gewalt einer schönen Seele überlegen war. Mère Jeannot war freilich zu derlei Erkenntnissen nicht fähig. Sie war vollkommen ungebildet, brachte Ursache und Wirkung oft durcheinander und mißverstand das Prinzip, daß Geld die Triebfeder menschlichen Handelns ist, vollkommen. Wenn sie daher die Sprößlinge anderer Leute in Pflege nahm, machte sie ihnen nicht, wie unter Säuglingshüterinnen üblich, einfach den Garaus, um sich so die Mühe des Fütterns zu ersparen, sondern zog sie wie ihre eigenen auf. Das freilich war ihr Untergang.
    »Brav sein und Gott lieben«, so ihre Devise, »dann geht alles gut.« Doch ich beobachtete, daß trotz ihrer schönen Seele bei ihr nie etwas gutging. Die Kinder aßen so viel, daß das hohe Strohdach ihrer Lehmhütte alt und leck wurde und die Ratten einzogen. Dann wurde ihr Ehemann krank, der Steuereintreiber holte die Betten ab, und ihr unnützer Neffe stahl das Geld aus Paris, das sie im Kästchen unter dem Bett verwahrte. Für ihre immense Brut von Pfleglingen gab es nur noch eine Mahlzeit am Tag, und zwar Hafergrütze. Ich aber gedieh trotz alledem, denn, wie Mutter mir oftmals sagte, Unkraut gedeiht am besten, und die schönsten Blumen gedeihen nur im Glashaus. Manchmal, wenn ich mich an die wogende Weide im Frühling hinter Mère Jeannots Häuschen erinnere, an die wildwachsenden, blühenden Kräuter, die die Erde mit Farben überzogen, dann denke ich, daß man Unkraut niemals unterschätzen soll.
    Als ich gerade fünf geworden war, fuhr eine große, glänzendschwarze Kalesche mit goldenen Verzierungen und hohen roten Rädern in Fontenay-aux-Roses vor. In jenen Tagen, als Kaleschen sogar in Paris noch selten waren, hätte ein Elefant in dem kleinen Dorf nicht mehr Aufsehen erregen können. In allen Fenstern tauchten Köpfe auf, selbst der Dorfpriester kam herbeigelaufen. Die Kutsche wurde von zwei großen Braunen in messingbeschlagenem Geschirr gezogen. Auf dem Bock ein Kutscher mit einer langen Peitsche, dahinter drei Männer in blauer Livree mit blanken Messingknöpfen, eine Hausmagd mit schneeweißer Haube und Schürze sowie mein Vater, graugesichtig und sorgengebeugt. Er war gekommen, um mich heimzuholen. Er erkannte mich sogleich an meinem schlimmen Fuß und zeigte mit seinem Spazierstock auf mich, als ich zwischen den hüpfenden Kindern einherschlurfte, um wie sie die fremde Kutsche zu bewundern. Daraufhin sprang die Hausmagd heraus, wusch mich und zog mir feine Kleider an, und mein Vater gab der weinenden Mère Jeannot einen Beutel voller Geldstücke. Das letzte, was ich von ihr sah, war ihr tränenfleckiges Gesicht, als sie neben der Kalesche im Staub rannte und rief: »Lebe wohl, kleine Geneviève, vergiß nicht, sei brav!«
    In der Kalesche war es heiß und unbequem. Die Ledersitze waren rutschig, die feinen Kleider steif, kratzig und eng. Meine Füße, die mein ganzes kurzes Leben unbeschuht gewesen waren, schmerzten nun furchtbar in den fest geschnürten neuen Schuhen. Und Mère Jeannot war fort. Der Herr in dem altmodischen grauen Reisehabit mit dem breiten Federhut saß mir ganz allein gegenüber und sah mich an. Seine Augen waren voller Tränen, und ich meinte damals, daß auch er Mère Jeannot vermißte. Schließlich sprach er.
    »Und mir haben sie gesagt, du seist tot.« Er schüttelte bedächtig den Kopf, als könne er es nicht glauben. Ich betrachtete seine meergrauen Augen. Er trug sein eigenes Haar, denn Perücken waren noch nicht in Mode. Seine Haare waren dunkel, schulterlang, graumeliert. Mein Kopf dagegen, der noch vom Striegeln mit der ungewohnten Haarbürste kribbelte, war voller unbändiger schwarzer Locken. Vorsichtig befühlte ich meine Haare. Sie waren ganz gewiß kein bißchen grau. Meine kindliche, schon damals scharfe Logik zog daraus den Schluß, daß er sich geirrt und das falsche Kind ausgesucht hatte.
    »Ich bin dein Vater, Geneviève. Kennst du mich denn nicht?«
    »Ich kenne Euch«, erwiderte ich. »Ihr seid der gütigste Vater auf der ganzen Welt. Das hat Mère Jeannot mir gesagt.« Darauf liefen ihm die Tränen übers Gesicht, und er umarmte mich, selbst auf die Gefahr hin, die schöne Stickerei auf seiner langärmeligen Weste zu ruinieren. Und so entdeckte ich aufs neue, daß Geld das Geheimnis ist, das alles bewegt. Denn hätte Mère Jeannots unnützer Neffe nicht das Geld aus dem Kästchen verbraucht, wäre er auch nicht auf den Gedanken verfallen, einen Brief an

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