Die Hexen - Roman
willst es einfach nicht wahrhaben, oder? Wir beide sind ein Teil davon. Ein Teil der Bewegung, die nach und nach alle Menschen mit wachen Sinnen und offenen Herzen erfassen wird. Wir beide haben die Gabe geerbt, ich und du.«
Ravenna rollte mit den Augen. »Es wird Zeit, dass du aufwachst, kleine Schwester. Sieh dich um und begreife, dass wir in der Gegenwart leben! Alle Geheimnisse sind gelüftet, jeder Winkel ist ausgeleuchtet. Was man früher als Magie ansah, lässt sich heute wissenschaftlich erklären. Das ist die Welt, die uns umgibt.«
Sie stieß den Fensterflügel auf, damit die Rauchschwaden und der betörende Duft der Kräuter abzogen. Die Straßenbeleuchtung flimmerte und fand ihren Widerschein auf dem Fluss. Von fern war das Rauschen des Verkehrs auf den Ringstraßen zu hören, und am Himmel blinkten die Positionslichter eines verspäteten Flugzeugs.
Ravenna nahm die beiden Tarotkarten zur Hand und betrachtete die mit Sternen gekrönte Königin der Maizeit. Ihr Thron stand mitten in einem reifen Getreidefeld am Waldrand und zu ihren Füßen strömte ein Fluss.
»Ein schönes Bild«, gab sie zu, »so still und friedlich.« Yvonne schmiegte sich an ihre Schulter. Wie Merle schien sie um Streicheleinheiten zu betteln. »Und das soll ihr Begleiter sein? Ihr magisches Gegenüber?« Ravenna runzelte die Stirn, als sie den Ritter mit der roten Rüstung musterte, der auf der zweiten Karte abgebildet war.
Kriegerisch wirbelte er das Schwert über den Kopf und gab seinem Pferd die Sporen. Das Tier bäumte sich auf. Im Hintergrund brannte die Sonne vom Himmel.
»Die Frau stellt eine Göttin dar. Wie Demeter oder Epona. Früher verehrte man sie in ganz Europa. Und der Ritter ist ihr Gefährte, ja. Zwei Hälften ergeben ein Ganzes. Auch das ist Magie.« Yvonne legte beide Handflächen gegeneinander.
Ravenna rieb sich die Schläfen. »Woher weißt du das bloß alles?«
Yvonne nahm ihr die Karten aus der Hand und legte sie behutsam auf den improvisierten Altar zurück. »Ich lese viel. Schließlich sitze ich den ganzen Tag in der Bibliothek herum und bewache alte Bücher. Vor allem lese ich zwischen den Zeilen.«
Ravenna ging zum Herd, füllte den Teekessel zur Hälfte mit Wasser und setzte ihn auf. »Das sind doch nur Vermutungen«, brummte sie. »Spekulationen, wie es wirklich war, ohne dass wir es jemals wissen werden.« Sie beobachtete, wie die blauen Gasflammen an der beschlagenen Außenwand des Kessels leckten. Merle lag wieder im Korb und kuschelte mit ihren Jungen.
»Und was ist mit dir?«, fragte Yvonne. Ihre Stimme klang herausfordernd. »Was ist mit deinem rätselhaften Verschwinden vor zwei Wochen, an das du angeblich keinerlei Erinnerungen hast? Wenn das nicht mystisch ist, weiß ich auch nicht.«
Ravenna wurde kalt bis in die Zehenspitzen. Benommen griff sie nach ihrer Strickjacke und zog sie über. Drei Tage ihres Lebens fehlten ihr und sie wusste nicht, wie ihr diese Zeitspanne abhandengekommen war. Schließlich hatte die Polizei sie an einem Brunnen in Obernai aufgegriffen. Dort saß sie mit zerkratztem Gesicht und blauen Flecken an den Armen und plapperte vor sich hin wie ein verwirrtes Kind. Und als Kommissar Gress sie bei ihrer Schwester ablieferte, glaubte sie immer noch, es sei Samstag – jener Samstag, an dem sie verschwand.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es tut mir schrecklich leid, Yvonne, denn ich kann mir vorstellen, welche Sorgen du dir gemacht hast …«
»Nein! Nein, das ist es ja – ich mache mir keine Sorgen!« Lebhaft schüttelte Yvonne die blonden Locken. »Irgendwie weiß ich, dass dir nichts geschieht. Als wärst du von einer höheren Macht beschützt.«
»Aber es gibt keine höhere Macht!«, schnaubte Ravenna. »Seit dem Überfall leide ich an einer dissoziativen Störung, sagt Doktor Corbeau. Ich bin verrückt. Krank im Hirn – das ist alles.« Mit dem Finger tippte sie sich gegen die Stirn.
Yvonne lachte. »Ich würde doch zu gerne hören, was dein guter Doktor Corbeau zur spontanen Manifestation von Marienkäfern in meinem Mund sagt.«
Ravenna schüttelte den Kopf. »Mach dich nicht darüber lustig. Es ist eine völlig logische Erklärung, die mir der Doktor da gegeben hat, damit kann ich gut leben. Gedächtnisverlust nach einer traumatischen Erfahrung. Das ist etwas völlig Normales.«
»Nicht, wenn der Gedächtnisverlust Wochen und Monate nach dem Überfall immer wieder auftritt«, beharrte Yvonne. »Außerdem erleidest du einen Zeitverlust, denn
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