Die Hexenjagd
tödlichen Fluch jedoch müssen es mehrere sein.« Cassies Mutter verband die Brandwunden schnell und effizient wie eine Krankenschwester. »Es ist ein sehr komplexer Vorgang, ähnlich einem Zauber, der nicht einfach in irgendeinem beliebigen Augenblick stattfinden kann.«
Cassie zuckte zusammen, als der Mull rohes Fleisch berührte.
»Faye und Laurel müssen also beschützt werden«, fuhr ihre Mutter fort. »Aber heute Nacht kannst du nur eins tun, nämlich dich ausruhen.«
Cassie nickte. Tausend Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, aber die Schmerzen ermüdeten sie. Sie schlüpfte in ihr Bett und spürte, wie ihre Lider schwer wurden. Sie schloss die Augen. Aber selbst hinter ihren Augenlidern konnte Cassie den glühenden Umriss des Buches schimmern sehen, das einst ihrem Vater gehört hatte. Erschöpft schlief sie schließlich ein.
Am nächsten Morgen wartete Cassie auf der Veranda auf Adam, der sie zur Schule mitnehmen wollte. Sie versuchte, sich zu entspannen und die morgendlichen Sonnenstrahlen zu genießen. Doch es gelang ihr nicht. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Es gab zu vieles, das ihr Angst machte. In der vergangenen Woche hatte Scarlett, Cassies eigene Halbschwester, sie töten wollen, um ihren Platz im Zirkel einzunehmen– und es auch beinahe geschafft. Sie hatten in Cape Cod einen Machtkampf ausgefochten, an dessen Ende es Cassie immerhin gelungen war, Scarlett in die Flucht zu schlagen. Aber ihre Halbschwester hatte die Meisterwerkzeuge an sich gebracht und mitgenommen.
Und als sei das noch nicht genug, drohte auch noch Gefahr von den Hexenjägern. Der Zirkel war sich jetzt sicher, dass es sich dabei um Schulleiter Boylan und seinen Sohn Max handelte. Sie hatten Laurel und Faye bereits mit dem Jägersymbol markiert, und es war gut möglich, dass sie auch die Identität der anderen Zirkelmitglieder kannten.
Cassie starrte auf das Geländer der Veranda; der graue Anstrich blätterte bereits ab. Dieses alte Haus, dachte sie, diese altmodische Stadt. Ihrer uralten Geschichte konnte sie nicht entfliehen.
Es war Cassie unmöglich, die warme Morgensonne zu genießen. Sie fröstelte und zog sich die Ärmel ihres purpurnen Kapuzenpullovers über die Hände, um ihre verbundenen Brandwunden zu verdecken. Am liebsten hätte sie sich gänzlich in ihrem Pulli verkrochen. Und dann hörte sie etwas– ein Rascheln im Gebüsch. Es ist nur der Wind, versuchte sie, sich zu beruhigen. Aber kein Lüftchen regte sich.
Da raschelte es erneut. Von links, von den Büschen her, die den Weg zum Nebeneingang des Hauses säumten– ein idealer Platz für Einbrecher, um sich ins Haus zu schleichen. Oder für Scarlett.
Vorsichtig näherte Cassie sich über die klapprige Holzveranda der Stelle. Die Büsche regten sich abermals– diesmal hörte sie es nicht nur, sie sah es mit eigenen Augen. »Scarlett!«, schrie sie entsetzt auf.
Eine orangefarbene Tigerkatze kam aus der Hecke geschossen, flitzte an Cassie vorbei und kletterte auf einen Baum im Nachbargarten. Ihre Beute hatte sie im ungemähten Gras zurückgelassen: eine Feldmaus. Cassie atmete erleichtert auf. Wäre sie nicht so verschreckt und verlegen gewesen, hätte sie laut über sich selbst gelacht.
Gerade als sie wieder zum Vordereingang kam, bog Adams Wagen in die Einfahrt ein. Ihr Herz hämmerte immer noch unregelmäßig vor Aufregung, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ und sich zu Adam hinüberbeugte, um ihm einen Kuss zu geben.
»Was hast du denn so früh am Morgen schon im Garten gemacht?«, fragte Adam, während er aus der Einfahrt auf die Crowhaven Road zurücksetzte. »Bist du etwa gejoggt? Du bist ja ganz verschwitzt.«
»Begrüßt man so seine Freundin?«, scherzte Cassie. »Mit der Feststellung, dass sie verschwitzt ist?«
Adam grinste. »Ich wollte damit nur sagen, dass du heiß aussiehst. Verdammt heiß.« Er legte den Kopf schräg und wartete vergebens darauf, dass sie lachte.
Dabei liebte sie Adams Sinn für Humor. Ganz gleich, wie ernst die Situation mit den Jägern und Scarlett auch war, Adam kam immer ein lockerer Spruch über die Lippen. Und dafür war Cassie dankbar.
Sie lächelte und konzentrierte sich auf das Funkeln in seinen blaugrauen Augen und dachte an das silberne Band, diese geheimnisvolle Verbindung zwischen ihrer und Adams Seele. Aber was hatte es zu bedeuten, dass eine ebensolche Verbindung auch zwischen Adam und Scarlett bestand? Oder hatte sie sich dieses Band während ihres Kampfs gegen Scarlett nur
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