Die Hexenjagd
Aktenmappe, vermutlich, um geschäftsmäßig zu wirken. »Und wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie nicht einfach so in mein Büro platzen sollen.«
»Sie brauchen mich nicht anzublaffen«, antwortete Mrs Karol unbeeindruckt und mit strahlendem Lächeln. »Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass Ihre Schüler sich wie wilde Tiere benehmen.« Dann trat sie ganz in den Raum und fasste ihn am Ärmel seines eleganten Jacketts. »Und jetzt beeilen Sie sich. Sie sind der Einzige, der mit ihnen fertigwerden kann.«
Währenddessen saß Laurel unbewegt gegenüber von Mr Boylans großem Eichenschreibtisch. Cassie winkte ihr zu, um auf sich aufmerksam zu machen, aber Laurel nahm nichts wahr, was um sie herum geschah. Sie war bleich wie ein Geist, die Augen auf eine unsichtbare Stelle vor ihr gerichtet.
Mit einem Schnauben folgte Mr Boylan Mrs Karol in Richtung Turnhalle. »Lassen Sie uns das schnell erledigen«, sagte er, dann bemerkte er zum ersten Mal Cassie.
»Ich werde nicht lange brauchen«, rief er Laurel zu, während er sein Augenmerk auf Cassie richtete. »Wenn ich zurück bin, machen wir genau da weiter, wo wir aufgehört haben. Darauf kannst du dich verlassen.«
Es klang wie eine Drohung, die beiden galt. Cassie schauderte bei dem Gedanken daran, was alles hätte passieren können, wäre sie nur wenige Minuten später gekommen.
Laurel hatte noch immer keinen einzigen Muskel bewegt. Selbst jetzt, nachdem der Direktor und Mrs Karol außer Sicht waren, saß sie weiterhin wie erstarrt da. Cassie lief zu ihr und schüttelte ihre dünnen, zierlichen Schultern. »Bist du okay? Hat er dir etwas angetan?«
Langsam kehrte Leben in Laurels Gesicht zurück, und endlich bemerkte sie, dass Cassie neben ihr stand. »Wir müssen hier weg«, stieß sie hervor, sprang abrupt von ihrem Stuhl auf und lief zur Tür hinaus.
Cassie fasste sie an der Hand und eilte mit ihr den Flur hinunter in den naturwissenschaftlichen Trakt. »Wir müssen uns von der Turnhalle fernhalten«, warnte sie Laurel. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Mr Boylan bemerkte, dass es überhaupt keinen Kampf gab. »Wir brauchen ein Versteck. Zumindest bis es läutet.«
Am Ende des Flurs befand sich ein unverschlossener Laborschrank. »Da hinein«, bestimmte Cassie und schloss die Tür hinter sich und Laurel.
»Hier drin riecht es nach Formaldehyd«, bemerkte Laurel.
Cassie brachte es nicht übers Herz, die leidenschaftliche Tierschützerin Laurel auf das Glas mit dem Schweinefötus direkt hinter ihr aufmerksam zu machen. »Du hast recht, danach riecht es«, war deshalb alles, was Cassie erwiderte. Dann umarmte sie Laurel. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«
Zusammengekauert unter unzähligen Regalen voller Konservierungsmitteln, Reagenzgläsern und Schutzbrillen ließ Laurel ihren Tränen freien Lauf. Schluchzend erzählte sie, wie Mr Boylan sie verhört hatte, um Informationen über ihre Freunde aus ihr herauszupressen.
»Er hat mich namentlich nach jedem Mitglied des Zirkels befragt«, berichtete Laurel. »Er hat sich nach unseren Familien erkundigt. Er weiß, dass wir alle Hexen sind, Cassie, und er will jeden von uns markieren.«
»Dann sollten wir absolut keine Magie mehr wirken, bis wir herausgefunden haben, wie wir ihn aufhalten können«, befand Cassie.
Erneut brach Laurel in Tränen aus.
»Jetzt bist du erst mal in Sicherheit«, versuchte Cassie, sie zu beruhigen. »Und du bist nicht allein. Wir werden eine Möglichkeit finden, dich zu retten. Ich verspreche es.«
»Aber wie? Wir sind dem Ganzen nicht gewachsen, Cassie. So was mussten wir noch nie zuvor durchstehen.« Laurel begann so heftig zu weinen, dass Cassie schon befürchtete, man könne sie im Flur hören. »Ich will nicht sterben«, stieß Laurel hervor.
»Scht. Niemand wird sterben«, flüsterte Cassie. »Hör zu. Ich habe mit meiner Mutter über meinen Vater gesprochen. Erst gestern Abend, um genau zu sein. Und ich werde jetzt Dinge lernen, Laurel. Alte Dinge, die uns helfen werden.«
Laurels Schluchzen verebbte und sie wischte sich die Tränen von ihren geröteten Wangen. »Wirklich?«, fragte sie.
»Wirklich. Als mein Vater jung war, hat er einen Freund meiner Mutter gerettet, der markiert worden war. Es ist also möglich.«
»Und du glaubst, du kannst herausfinden, wie er das gemacht hat?«
»Ich weiß, dass ich es kann«, entgegnete Cassie mit einer Sicherheit, die sie nicht empfand. Insgeheim befürchtete sie, dass ihnen die Zeit davonlief. Sie musste
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