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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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weil sie so selten waren und dadurch zu einem kostbaren Gut wurden, das sie möglichst lange festzuhalten trachtete. Obwohl ihr klar war, dass es nicht stimmen konnte, meinte sie sich an jede einzelne davon zu erinnern: Augenblicke voller köstlicher Wärme, in denen sie sich geborgen und sicher gefühlt hatte wie sonst niemals und von denen sie sich gewünscht hatte, sie mochten niemals enden.
    »Das alles ist jetzt neu und verwirrend für dich«, fuhr Lea fort, »und es muss dich erschrecken, aber es ist nun einmal der Lauf der Natur. Keiner von uns hat die Macht, sie zu ändern.«
    »Dann ist es dir. auch so ergangen?«, fragte Arri zögernd. Sie wusste nicht, warum, aber während sie diese Worte aussprach, schienen sie wiederum das Bild vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören, das sie am Nachmittag gesehen hatte: ihre Mutter, deren Beine den Leib des Mannes umklammerten, den sie für Rahn gehalten hatte, während sich ihre Fingernägel in seinen Rücken gruben und sie stöhnend den Kopf hin und her warf. Diesmal war ihr die Erinnerung nicht peinlich, sie fand die bloße Vorstellung abstoßend; als wäre das, was sie bei so vielen anderen mehr oder auch weniger heimlich beobachtet hatte, etwas vollkommen anderes und Unnatürliches, nur weil ihre Mutter es tat.
    Lea lachte leise, bevor sie antwortete, als hätte sie eine ganz besonders naive Frage gestellt, aber es war nichts Verletzendes oder gar Abfälliges an diesem Lachen. »Natürlich. Jedermann macht es durch, auf die eine oder andere Weise.«
    »Und wie. wie bist du damit umgegangen?«, fragte sie zögernd.
    Diesmal verging spürbar etwas Zeit, bevor Lea antwortete, und ihre Stimme nahm einen sonderbaren, fast melancholischen Klang an. »Es ist so lange her, dass ich mich kaum noch erinnere. Ich glaube, ich war ziemlich unausstehlich, damals.«
    »Also so wie heute?«, neckte sie Arri.
    »Schlimmer«, antwortete Lea ernst. »Ich glaube, es gab ein paar Jahre, in denen ich meine ganze Umgebung fast in den Wahnsinn getrieben habe.« Sie entfernte sich mit langsamen Schritten von der Hütte, und da ihr Arm noch immer auf Arris Schulter lag, musste diese der Bewegung folgen, ob sie nun wollte oder nicht. »Aber ich fürchte, nicht das ist unser Problem. Es sieht eher so aus, als würden wir beide zusammen Sarn in den Wahnsinn treiben. Denn ob er will oder nicht - wir werden einen Weg finden, um bis zum Frühjahr hier zu bleiben, das verspreche ich dir.«
    Während der nächsten beiden Tage geschah genau das, was Arri erwartet hatte: nämlich gar nichts. Ihre Mutter ging noch zwei- oder dreimal in den Wald, ohne sich die Mühe zu machen, sie über ihre Ziele aufzuklären oder ihr auch nur zu sagen, wann sie zurückkommen würde, und Arri ergab sich nach anfänglichem Murren in ihr Schicksal, das im Großen und Ganzen darin bestand, in der Hütte zu bleiben und Achks Beschimpfungen und Willkürlichkeiten zu ertragen.
    Auch was sie über die Schmiede prophezeit hatte, erwies sich als nur zu wahr: Rahn rührte keinen Finger, um sie wieder aufzubauen, und verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, am Waldrand herumzulungern und Leas Hütte zu beobachten; das Fischen hatte er offensichtlich ganz aufgegeben und den Einbaum auf Dauer trockengelegt, was mehr als merkwürdig war, da Sarn so etwas unter gewöhnlichen Umständen niemals geduldet hätte. Im Dorf herrschte eine sonderbare Stille, was aber vielleicht an der Jahreszeit lag. Alles, was auch nur halbwegs gehen und krauchen konnte und zu keinen anderen Arbeiten eingeteilt war, machte sich den Rücken mit der Ernte der letzten Felder krumm, die - Arris Mutter sei Dank - auch dieses Jahr wieder prächtig ausfallen würde. Nur ein einziges Mal kam Lea mit finsterem Gesicht aus dem Dorf zurück. Sie sagte nichts, aber sie strahlte einen solchen Zorn aus, dass Arri auch nicht fragen musste, um zu wissen, dass sie wieder einmal mit Sarn gestritten hatte.
    Am dritten Morgen weckte sie ihre Mutter ungewöhnlich früh -noch deutlich vor Sonnenaufgang - und auf noch ungewöhnlichere Weise: Was sie weckte, war Leas Hand, die sich auf ihren Mund legte, und das Erste, was sie sah, als sie müde die Augen öffnete, war Leas andere Hand, deren ausgestreckter Zeigefinger über ihren Lippen lag und ihr auf diese Weise bedeutete, möglichst still zu sein. Arri deutete mit den Augen ein Nicken an, und ihre Mutter zog die Hand zurück, sodass sie wenigstens wieder atmen konnte, gab ihr aber mit einem Wink der anderen Hand noch

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