Die historischen Romane
ihre Geheimnisse lüften zu können. Warum sollten sie nicht den Tod riskieren, um ein Verlangen ihres wissbegierigen Geistes zu stillen, warum nicht schließlich auch töten, um zu verhindern, dass jemand sich eines ihrer kostbaren Geheimnisse bemächtigte?
Versuchungen, gewiss, Hoffart des Geistes. Wie anders war dagegen der schreibende Mönch, den sich einst unser heiliger Ordensgründer vorgestellt hatte: fähig, ein Buch zu kopieren, ohne es zu verstehen, entsagungsvoll Gottes Willen verrichtend, schreibend, weil betend, und betend, solange er schrieb. Warum war das jetzt nicht mehr so? Und dies war gewiss nicht die einzige Degenerationserscheinung unseres Ordens, oh nein! Er war zu mächtig geworden, seine Äbte wetteiferten mit den Königen; bot nicht Abbo das Beispiel für einen Monarchen, der mit monarchischer Miene Fehden zwischen Monarchen beizulegen versuchte? Selbst das Wissen, das unsere Abteien aufgehäuft hatten, wurde heutzutage als Tauschware eingesetzt, als Grund zu Hoffart und eitlem Prahlen missbraucht. Wie die Ritter prahlten mit ihren Rüstungen und Standarten, so prahlten unsere Äbte mit ihren bebilderten Codizes... Jawohl, und das um so lauter (welch ein Wahn!), als unsere Klöster längst schon die Siegespalme der Weisheit verloren hatten:
Längst schon kopierten die Domschulen, Universitäten und städtischen Zünfte ebenfalls Bücher, mehr und besser womöglich als wir, und sie produzierten neue Bücher – und das war vielleicht überhaupt der Grund für all dieses Unheil.
Die Abtei, in welcher ich mich befand, war vermutlich die letzte, die sich noch einer überragenden Meisterschaft im Herstellen und Kopieren von Büchern rühmen konnte. Doch gerade darum vielleicht begnügten sich ihre Mönche nicht mehr mit dem frommen Werk des Kopierens, sondern wollten in ihrer Gier nach Neuem ebenfalls neue Ergänzungen der Natur produzieren. Und dabei merkten sie gar nicht (wie ich damals undeutlich ahnte und heute, reich an Jahren und Erfahrungen, weiß), dass sie gerade durch dieses ihr Streben den Zusammenbruch ihrer Einmaligkeit noch beschleunigten. Denn wäre das neue Wissen, das sie hervorbringen wollten, ungehindert über die Mauern dieser Abtei in die Welt hinausgedrungen, so hätte sich dieser heilige Ort in nichts mehr von einer Domschule oder städtischen Universität unterschieden. Blieb es indessen verborgen, so behielt es sein Ansehen und seine Kraft und wurde nicht durch Dispute verdorben, durch den quodlibetalen Dünkel, der alle Geheimnisse und alle Größe der kühlen Prüfung des sic et non unterziehen will. Dies eben, sagte ich mir, sind die Gründe für all das Schweigen und Zwielicht, das hier die Bibliothek umgibt: Sie ist ein Hort des Wissens, doch sie kann dieses Wissen nur unversehrt erhalten, wenn sie verhindert, dass es jedem Beliebigen zugänglich wird, sei er auch ein Mönch. Denn das Wissen ist eben nicht wie das Geld, das noch die schändlichsten Tauschhändel physisch unversehrt übersteht. Das Wissen gleicht eher einem kostbaren Kleid, das durch Gebrauch und stolzes Vorzeigen abgenutzt wird. Und gilt nicht dasselbe auch für den Träger des Wissens, das Buch? Seine Seiten knittern, seine Tinten und Goldfarben werden matt, wenn zu viele Hände sie berühren. Wenige Schritte vor mir blätterte Bruder Pacificus von Tivoli in einem alten Folianten, dessen Seiten der Feuchtigkeit wegen leicht aneinanderklebten. Um besser umblättern zu können, benetzte er sich mit der Zunge jedesmal Daumen und Zeigefinger, und bei jeder Berührung mit seinem Speichel verloren die Seiten etwas von ihrer Konsistenz; sie aufzuschlagen hieß also, sie zu biegen, sie der zerstörerischen Einwirkung von Luft und Staub auszusetzen, die das feine Geäder, mit dem sich das Pergament im Laufe der Zeit überzogen hatte, aufplatzen lassen und neue Schimmelbildung hervorrufen würde an jenen Stellen, wo der Speichel die Ecken des Blattes biegsam, aber eben auch mürbe machte. Genau wie allzu große Verzärtelung den Krieger verweichlicht und kampfesuntüchtig macht, so macht allzu große Besitzerliebe und Wissbegier das Buch für die Krankheit empfänglich, an der es am Ende unweigerlich sterben wird.
Was also hätte man tun sollen? Aufhören zu lesen und nur noch pfleglich bewahren? War meine Sorge berechtigt? Und was würde mein Meister wohl dazu sagen?
Nicht weit von mir sah ich einen Rubrikator, Magnus von Iona, der gerade sein Vellum mit dem Bimsstein abgerieben hatte und nun dabei war,
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