Mystic
1
Es ist der letzte Novembertag des Jahres 1918 . Die Green Mountains erheben sich zu beiden Seiten des Bluekill River wie stumme, starre Wächter, die von bösen Machenschaften wissen, doch außerstande sind, einzugreifen. Eine dünne Eisschicht hat den Talboden und die steinernen Hausfassaden des Städtchens Lawton überzogen. Oben an den Hängen der Bergspitzen fällt nasser Schnee und bedeckt eine Blockhütte, auf deren Dachboden ein zehnjähriger Junge unter dicken Wolldecken in unruhigem Schlaf liegt.
Zwei Stunden vor Tagesanbruch wird der Junge von einem schleimig-röchelnden Husten im Raum unter ihm aufgeschreckt. Seine halbgeschlossenen Augen nehmen Dutzende von Nagelspitzen wahr, die durch die Dachlatten in die Hütte ragen. Die Nagelspitzen haben die Kälte nach innen geleitet und heben sich reifüberzogen und glänzend gegen das dunkle Holz ab. Wäre da nicht der Husten. Dylan könnte sich vorstellen, er wache draußen unter den Sternen auf, in einer vollkommenen Welt, wo es so etwas wie Sterben gar nicht gibt.
»Dylan! Dylan, wach auf, um Gottes willen!«
Der Junge dreht sich auf dem Strohsack um, der ihm als Bett dient. Der Rauch des Holzfeuers wird von dem beißenden, schweißigen Fiebergeruch überlagert. Das Licht einer Petroleumlampe wirft zuckende Schatten auf die rissigen Wände, den groben Teppich, den einfachen Kiefernholztisch, den sein Vater in dem Jahr gezimmert hat, als er in den Krieg ging, und auf die Bettcouch, auf der seine Schwester liegt. Anna hat seit drei Tagen keinen verständlichen Satz mehr gesprochen und ist jetzt nur noch ein winziges, keuchendes Gesicht in den üppigen Daunenkissen ihrer Mutter.
Hettie McColl wringt über einer Waschschüssel einen Lappen aus, faltet ihn zusammen und legt ihn behutsam auf die glühend heiße Stirn ihrer Tochter. »Mama hat dich lieb, Anna«, flüstert sie dem Mädchen zu, das nichts hören kann.
Dylan sieht auf seine Mutter hinunter und schluckt schwer. Über Nacht ist Hetties tapfere Haltung mit jeder Niederlage im Kampf um Annas Leben etwas mehr zusammengebrochen; ihre Augen liegen schwarz und tief in den Höhlen, ihr Gesicht ist eingefallen, so dass die Wangenknochen hervortreten. Ihre Lippen sind aufgesprungen. Aber vor allem der Ausdruck ihres Gesichts erschüttert den Jungen, ein Ausdruck von Verzweiflung, der die Hoffnung zunichtemacht, dass allein ihre Liebe dieses Unheil abwenden kann.
Dylan denkt an seinen Vater, der im Jahr zuvor in den Schützengräben Frankreichs bei einem Senfgasangriff umgekommen ist. Instinktiv zieht sich der Junge in sich selbst zurück; und er erlebt die Welt wie durch kaltes, fließendes Wasser.
»Dylan!«, ruft Hettie wieder.
»Was willst du, Ma?«, fragt er tonlos.
»Nimm das Pferd und reite in die Stadt, hol den Doktor«, befiehlt sie. »Deiner Schwester geht es sehr schlecht.«
»Gibt keine Ärzte mehr in Lawton, Ma«, antwortet er. »Die sind alle weg, weil sie Angst hatten, sie kriegen es auch.«
Dylan hat gehört, dass in den letzten sechs Monaten zwanzig Millionen Menschen auf der ganzen Welt an der Spanischen Grippe gestorben sind. Mehr als sechshunderttausend hat sie allein in den Vereinigten Staaten dahingerafft, das sind weit mehr als die Soldaten, die während des ganzen Krieges im Kampf gefallen sind. Lawton ist im Staat Vermont die Stadt, die es am schlimmsten getroffen hat. Durch die tödliche Fieberkrankheit, die mit wahnsinnigen Kopfschmerzen und Krämpfen einhergeht, hat Dylan eine Tante, seine Großmutter mütterlicherseits und zwei Vettern verloren. Jetzt ist seine Schwester an der Reihe.
Ein Freund in der Schule hat ihm erzählt, das Ende komme, wenn sich die Lungen mit Flüssigkeit füllen. Anna wird in ihrem Bett ertrinken. Und dann wird ihre Mutter es bekommen, und Dylan hat Angst, dass er übrig bleiben wird, um allein gegen das Fieber zu kämpfen. Der Junge möchte sich am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und sich vor dem Grauen verstecken, das den Raum um ihn erfüllt.
»Dann hol den Priester«, schreit seine Mutter voller Verzweiflung. »Anna hat nicht mehr viel Zeit.«
Der Junge hat die Geschichten über den Priester gehört, und plötzlich erwacht seine Hoffnung wieder, dass Anna leben wird. Er zieht seine Lederstiefel an, die schwere Jacke, Mütze und Handschuhe und stürzt in die Nacht hinaus. Er legt der Fuchsstute seines Vaters Zaumzeug an, schwingt sich ohne Sattel auf ihren Rücken und treibt sie mit seinen Absätzen in den Sturm hinaus.
Der
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