Die historischen Romane
denen sich schmale Schlitze im Mauerwerk öffneten. Als ich die Hand davor hielt, spürte ich einen frischen Luftzug von draußen, und als ich das Ohr daran legte, hörte ich ein Rauschen, als ginge draußen der Wind.
»Schließlich musste die Bibliothek ja irgendein Belüftungssystem haben«, erklärte William, »sonst wäre die Luft hier bald unerträglich, besonders im Sommer. Außerdem dringt durch diese Kanäle die richtige Dosis Feuchtigkeit ein, so dass die Pergamente nicht austrocknen. Aber die Findigkeit der Baumeister geht noch weiter: Indem sie die Schlitze in bestimmten Winkeln anordneten, sorgten sie dafür, dass die Luftzüge, die in windigen Nächten hier eindringen, sich mit anderen Luftzügen überschneiden und sich in den Räumen stauen, um jene Töne hervorzurufen, die wir soeben vernahmen. Und die dann zusammen mit den Spiegeln und Kräutern dem unerwünschten Eindringling Angst machen sollen. Selbst wir haben einen Moment lang geglaubt, dass Gespenster uns im Gesicht berührten. Dass wir erst jetzt darauf gestoßen sind, liegt einfach daran, dass draußen der Wind sich erst jetzt erhoben hat. Somit wäre auch dieses Geheimnis erklärt. Aber mit alledem wissen wir immer noch nicht, wie wir hier rauskommen!«
So redend irrten wir weiter herum, nun bereits ziemlich verloren. Wir hatten längst aufgehört, die Inschriften zu lesen, sie schienen uns alle gleich. Wir gerieten erneut in einen siebeneckigen Raum, durchquerten die Räume um ihn herum, fanden keinen Ausgang. Wir machten kehrt, eilten fast eine Stunde lang von Raum zu Raum und hatten jegliche Orientierung verloren. Schließlich gab sich William geschlagen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns irgendwo niederzulegen und zu hoffen, dass Malachias uns am nächsten Tag finden würde. Während wir ganz verzagt das erbärmliche Ende unserer kühnen Unternehmung beklagten, traten wir durch eine Tür und standen auf einmal wieder in jenem siebeneckigen Raum, in dem unsere Odyssee begonnen hatte. Voller Freude dankten wir dem Herrn und stiegen erleichtert die Treppe hinunter.
Kaum in der Küche angelangt, stürzten wir uns sogleich in den unterirdischen Gang, und ich schwöre: Das tote Grinsen der nackten Schädel erschien mir diesmal wahrhaftig wie das freundlichste Lächeln geliebter Personen! Wir erreichten die Kirche, eilten durchs Nordportal hinaus auf den Friedhof und setzten uns glücklich auf die steinerne Einfassung eines Grabes. Die herrliche Nachtluft war wie göttlicher Balsam. Über uns glänzten die Sterne, und die Visionen der Bibliothek lagen weit in der Ferne.
»Wie schön ist die Welt, und wie grässlich sind Labyrinthe!« rief ich erleichtert aus.
»Wie schön wäre die Welt, wenn es eine Regel für die Begehung von Labyrinthen gäbe!« sagte William.
»Wie spät mag es sein?«
»Ich weiß nicht, ich habe das Zeitgefühl verloren. Aber wir sollten in unseren Zellen sein, wenn es zur Frühmette läutet.«
So erhoben wir uns, gingen um die Kirche, passierten das Hauptportal (ich drehte den Kopf zur Seite, um nicht die vierundzwanzig Greise der Apokalypse zu sehen – super thronos viginti quatuor!) und erreichten durch den Kreuzgang das Pilgerhaus.
Vor der Schwelle empfing uns der Abt mit strengem Blick. »Die ganze Nacht schon suche ich Euch«, sagte er zu William. »Ich fand Euch nicht in der Zelle, ich fand Euch nicht in der Kirche...«
»Wir sind einer Spur nachgegangen...«, antwortete William vage und sichtlich verlegen. Der Abt fixierte ihn lange und sagte dann ernst und langsam: »Ich habe Euch gleich nach Komplet zu suchen begonnen. Berengar war nicht im Chor.«
»Ach, das ist ja interessant!« rief William erleichtert aus – und in der Tat war damit nun wohl geklärt, wer der nächtliche Unbekannte im Skriptorium gewesen war.
»Er war nicht zum Abendgebet im Chor«, wiederholte der Abt, »und er war auch die ganze Nacht nicht in seiner Zelle. Gleich wird es zur Mette läuten, sehen wir, ob er jetzt wieder da ist. Andernfalls fürchte ich ein neues Unheil.«
Berengar war auch zur Mette nicht da.
DRITTER TAG
Dritter Tag
VON LAUDES BIS PRIMA
Worin man in der Zelle des verschwundenen Berengar ein blutiges Leintuch findet, und das ist alles.
M üdigkeit überfällt mich, während ich dieses schreibe, Müdigkeit und Erschöpfung wie damals im Morgengrauen nach jener langen Nacht. Was soll ich sagen? Sobald die Mette beendet war, schickte der Abt den größten Teil seiner Mönche – alle
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