Die historischen Romane
wir in dieser Abenddämmerung Flamme und hohes Leuchtzeichen am Horizont. Und solange diese Mauern stehen, werden wir Wahrer und Wächter bleiben des göttlichen Wortes.«
»Wohlan, so sei es«, nickte William andächtig. »Aber was hat das alles damit zu tun, dass man die Bibliothek nicht besichtigen darf?«
»Seht, Bruder William«, erklärte der Abt, »um das große und heilige Werk zu verrichten, das diese Mauern krönt«, und bei diesen Worten wies er durch das Fenster auf den massigen Bau des Aedificiums, dessen Türme sogar die Abteikirche überragten, »haben gottesfürchtige Männer jahrhundertelang arbeiten müssen, und während der ganzen Zeit haben sie eherne Regeln befolgt. Die Bibliothek ist nach einem Plan entstanden, der allen Beteiligten dunkel geblieben ist in all den Jahrhunderten, keiner der Mönche war und ist je befugt, ihn zu kennen. Allein der Bruder Bibliothekar weiß um das Geheimnis, er hat es von seinem Vorgänger erfahren und gibt es vor seinem Tode weiter an seinen Adlatus, damit, falls ein plötzlicher Tod ihn heimsucht, die Bruderschaft nicht dieses kostbaren Wissens beraubt wird. Doch beider Lippen sind durch das Geheimnis versiegelt. Allein der Bibliothekar hat das Recht, sich im Labyrinth der Bücher zu bewegen, er allein weiß, wo die einzelnen Bände zu finden sind und wohin sie nach Gebrauch wieder eingestellt werden müssen, er allein ist verantwortlich für ihre sachgemäße Erhaltung. Die anderen Mönche arbeiten im Skriptorium und haben nur Einsicht in das Verzeichnis der Bücher. Aber ein Verzeichnis besagt oft wenig, und allein der Bibliothekar kann aus der Signatur eines Buches und aus dem Grad seiner Unzugänglichkeit ersehen, welche Art von Geheimnis, von Wahrheit oder von Lüge es enthält. Er allein entscheidet, zuweilen nach Rücksprache mit mir, ob, wann und wie es dem Mönche, der es bestellt hat, auszuhändigen ist. Denn nicht alle Wahrheiten sind für alle Ohren bestimmt, nicht alle Lügen sind sofort als solche erkennbar für eine fromme Seele, und schließlich sollen die Mönche im Skriptorium eine genau definierte Arbeit tun, wozu sie bestimmte Bücher lesen müssen – die anderen gehen sie nichts an, und sie sollen nicht jedem Anflug von Neugier nachgeben, der sie plötzlich packen mag, sei es aus Schwäche des Geistes oder aus Hochmut oder aufgrund einer teuflischen Einflüsterung.«
»Demnach gibt es in Eurer Bibliothek auch Bücher, die Lügen enthalten...«
»Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Plans sind, und selbst in den schrecklichsten Fratzen offenbart sich die Größe des Schöpfers. So existieren, gleichfalls als Teil des göttlichen Plans, auch die Bücher der Magier, die Kabbalen der Juden, Fabeln der heidnischen Dichter und die Lügen der Ungläubigen. Stets war es die feste und heilige Überzeugung der Gründer und Hüter dieser Abtei, dass auch in den Lügenbüchern ein Abglanz der göttlichen Weisheit vor den Augen des kundigen Lesers aufscheinen kann. Und darum enthält die Bibliothek auch diese Bücher. Doch aus dem gleichen Grunde, versteht Ihr, darf sie nicht von jedermann betreten werden. Außerdem«, fügte der Abt hinzu, als wollte er sich für die Dürftigkeit dieses letzten Arguments entschuldigen, »sind Bücher gebrechliche Wesen, sie leiden unter dem Zahn der Zeit, sie fürchten die Nagetiere, die Unbilden der Witterung, die plumpen Hände ungeübter Benutzer. Hätte in den vergangenen Jahrhunderten jedermann Zutritt zur Bibliothek gehabt und unsere Handschriften nach Belieben berühren dürfen, so wäre der größte Teil von ihnen heute nicht mehr vorhanden. Der Bibliothekar schützt sie also nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor der Natur, und er widmet sein ganzes Leben diesem fortwährenden Krieg gegen die Kräfte des Vergessens, des Feindes der Wahrheit.«
»Demnach betritt also außer den beiden Personen niemand das Obergeschoss des Aedificiums?«
Der Abt lächelte fein: »Niemand darf es. Niemand kann es. Niemand hätte, selbst wenn er es wollte, Erfolg. Die Bibliothek verteidigt sich selbst. Unergründlich wie die Wahrheit, die sie beherbergt, trügerisch wie die Lügen, die sie hütet, ist sie ein geistiges Labyrinth und zugleich ein irdisches. Kämt Ihr hinein, Ihr kämt nicht wieder heraus. Dies mag Euch genügen, ich muss Euch bitten, Euch an die Regeln dieser Abtei zu halten.«
»Gleichwohl haltet Ihr es für möglich, dass Adelmus aus einem der Fenster des Obergeschosses gestürzt sein
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