Die historischen Romane
Abt, lass dir ein Reittier geben und Proviant und ein Empfehlungsschreiben an eine Abtei irgendwo im Norden, jenseits der Alpen, und nutze die Dunkelheit und den Nebel, um sofort aufzubrechen.«
»Werden die Bogenschützen nicht das Tor bewachen?«
»Die Abtei hat noch andere Ausgänge, und der Abt kennt sie. Es genügt, dass dich ein Knecht an einer der unteren Kehren mit einem Reittier erwartet, und wenn du hier irgendwo durch die Mauer verschwunden bist, brauchst du nur noch ein kurzes Stück durchs Gehölz zu gehen. Beeile dich, solange Bernard noch im Hochgefühl seines Sieges schwelgt. Ich muss mich um etwas anderes kümmern, ich hatte zwei Missionen, eine davon ist gescheitert, jetzt will ich zumindest die andere erfolgreich beenden. Ich muss ein Buch in die Hand bekommen – und einen Mann. Wenn alles gutgeht, bist du weg, bevor ich zurückkomme. Also leb wohl, Ubertin!« Er breitete die Arme aus, und Ubertin drückte ihn tief bewegt an sich. »Leb wohl, Bruder William, du bist ein närrischer und arroganter Engländer, aber du hast ein großes Herz. Sehen wir uns wieder?«
»Wir sehen uns wieder, so Gott will.«
Gott wollte es leider nicht. Wie ich bereits erwähnte, starb Ubertin von Casale wenige Jahre später unter geheimnisvollen Umständen in einer deutschen Stadt. Es war ein schweres und abenteuerliches Leben gewesen, das dieser glühende alte Kämpfer geführt hatte, und wenn er vielleicht auch kein Heiliger war, so hoffe ich doch, dass seine unerschütterliche Überzeugung, einer zu sein, von Gott belohnt worden ist. Je älter ich werde und je demütiger ich mich dem Willen Gottes beuge, desto weniger schätze ich die Wissbegier des Verstandes und den Willen zum Handeln – und desto klarer erkenne ich als einzigen Heilsweg den Glauben, der geduldig warten kann, ohne allzu viel Fragen zu stellen. Und Ubertin hatte gewiss viel Glauben an das Blut und den Kreuzestod Unseres Herrn.
Vielleicht dachte ich auch schon damals so, und der alte Mystiker spürte es, oder er ahnte, dass ich eines Tages so denken würde, jedenfalls umarmte er mich mit einem gütigen Lächeln, aber ohne die Glut, mit der er mich in den vergangenen Tagen zuweilen an sich gedrückt hatte. Er umarmte mich, wie ein Großvater seinen Enkel umarmt, und im gleichen Geiste erwiderte ich seinen Druck. Dann entfernte er sich mit Michael, um den Abt aufzusuchen.
»Was machen wir jetzt?« fragte ich William.
»Jetzt kümmern wir uns wieder um unsere Mordfälle.«
»Meister«, sagte ich, »heute sind folgenschwere Dinge geschehen von großem Gewicht für die Christenheit, und Eure Mission ist gescheitert. Und doch seid Ihr offenbar mehr an der Aufklärung dieser Mordfälle interessiert als am Konflikt zwischen Kaiser und Papst!«
»Narren und Kinder sagen die Wahrheit. Ja, Adson, du hast recht, und ich will dir auch sagen, warum. Als kaiserlicher Ratgeber bin ich wohl nicht so gut wie mein Freund Marsilius, aber als Inquisitor bin ich der bessere. Besser sogar als Bernard, Gott vergebe mir. Denn Bernard will gar nicht unbedingt den wahren Schuldigen finden, er will nur den Angeklagten brennen sehen. Mir dagegen macht es Freude, ein richtig schön verwickeltes Knäuel zu entwirren. Hinzu kommt, dass ich in einem Moment, da ich als Philosoph bezweifle, ob die Welt eine Ordnung hat, einen gewissen Trost darin finde, wenn schon nicht eine Ordnung, so doch wenigstens ein paar Zusammenhänge zwischen den Angelegenheiten der Welt zu entdecken. Und schließlich gibt es vielleicht noch einen tieferen Grund: In dieser Geschichte geht es womöglich um Dinge, die größer und bedeutsamer sind als der Streit zwischen Kaiser und Papst...«
»Aber es ist doch bloß eine Geschichte von Hader und Zwietracht zwischen recht untugendhaften Mönchen!« rief ich verblüfft.
»Um ein verbotenes Buch, Adson, um ein verbotenes Buch!«
Unterdessen strömten die Mönche ins Refektorium, und wir folgten ihnen. Als das Mahl fast zur Hälfte vorüber war, erschien Michael von Cesena, setzte sich neben uns und gab uns zu verstehen, dass Ubertin fort war. William stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Nach dem Mahl mieden wir den Abt, den wir mit Bernard sprechen sahen, und entdeckten Benno im Gedränge. Er warf uns ein halbes Lächeln zu und versuchte, die Tür zu erreichen. Aber William holte ihn ein und zwang ihn, uns in einen Winkel der Küche zu folgen.
»Benno«, sagte er streng, »wo ist das Buch?«
»Welches Buch?«
»Benno, keiner von uns
Weitere Kostenlose Bücher