Die historischen Romane
tafeln. Die Quelle der häretischen Ruchlosigkeiten sprudelt aus mancherlei Predigten, auch aus hoch angesehenen, noch ungestraften. Leidvoll und schwer ist das Amt und die Aufgabe dessen, der, wie meine sündige Wenigkeit, von Gott berufen ist, die Schlange der Ketzerei zu entdecken, wo immer sie sich einnistet. Doch wenn man dieses heilige Werk verrichtet, lernt man, dass Ketzer nicht nur jene sind, die ihre Ketzerei offen praktizieren. Die Helfershelfer der Ketzerei erkennt man an fünf beweiskräftigen Indizien. Erstens, wer die gefangenen Ketzer heimlich im Gefängnis besucht; zweitens, wer ihre Gefangennahme beklagt und ihnen im Leben freundschaftlich verbunden war (denn schwerlich entgehen einem die ruchlosen Machenschaften der Ketzer, wenn man häufig mit ihnen Umgang hat); drittens, wer die Meinung vertritt, die Ketzer seien zu Unrecht verurteilt worden, mag ihre Schuld auch erwiesen sein; viertens, wer Kritik übt an den Verfolgern der Ketzer und an denen, die erfolgreich gegen das Ketzertum predigen (und er braucht die Kritik gar nicht laut zu üben, man kann sie ihm schon an den Augen, an der Nasenspitze ansehen, am Gesichtsausdruck, wenn er unwillkürlich seinen Hass auf diejenigen bekundet, die er verabscheut, und seine Liebe zu denen, deren Missgeschick er beklagt); fünftes Kennzeichen ist schließlich, wenn jemand die Knochen verbrannter Ketzer sammelt und zum Gegenstand seiner Verehrung macht... Aber ich messe auch einem sechsten Kennzeichen größten Wert bei: Offenkundige Helfershelfer der Ketzer sind in meinen Augen auch jene, deren Schriften (auch wenn sie nicht unverhüllt den rechten Glauben bekämpfen) den Ketzern die Prämissen geliefert haben, aus denen sie ihre perversen Schlussfolgerungen zogen.«
Sprach's und fixierte Ubertin. Alle anwesenden Franziskaner begriffen sofort, worauf er anspielte. Das Treffen war definitiv gescheitert, niemand hätte es jetzt noch gewagt, die Debatte vom Vormittag wieder aufzunehmen, jedes weitere Wort wäre zwangsläufig an den schlimmen Ereignissen der vergangenen Stunde gemessen worden. Wenn Bernard Gui vom Papst geschickt worden war, um eine Verständigung der beiden Legationen zu vereiteln, so hatte er seinen Auftrag glänzend erfüllt.
Fünfter Tag
VESPER
Worin Ubertin die Flucht ergreift, Benno sich an die Gesetze zu halten beginnt und William einige Betrachtungen anstellt über die verschiedenen Arten von Wollust, die an jenem Tage zum Vorschein gekommen sind.
W ährend der Saal sich langsam leerte, kam Michael von Cesena zu meinem Meister, und gleich darauf trat auch Ubertin zu den beiden. Wir gingen gemeinsam hinaus und begaben uns in den Kreuzgang, um ungestört reden zu können im Schutze des Nebels, der sich noch immer nicht auflösen wollte, ja mit zunehmender Dunkelheit eher noch dichter wurde.
»Was geschehen ist, bedarf wohl keines weiteren Kommentars«, sagte William. »Bernard hat uns besiegt. Fragt mich nicht, ob dieser arme Teufel von Dolcinianer wirklich schuldig an all den Verbrechen ist. Die Morde in der Abtei gehen jedenfalls nicht auf sein Konto, soweit ich sehen kann. Tatsache ist, dass wir wieder am Anfang stehen. Johannes will dich ohne Begleitschutz in Avignon haben, Michael, und das Treffen hat dir nicht die gewünschten Garantien erbracht. Im Gegenteil, es hat dir eher einen Vorgeschmack davon gegeben, wie man dir jedes Wort im Munde umdrehen kann, wenn du erst einmal dort bist. Woraus meines Erachtens zu schließen wäre, dass du nicht hingehen solltest.«
Michael schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde hingehen, Bruder. Ich will kein Schisma. Du hast heute Morgen sehr deutlich gesagt, was du willst, das war mutig und klärend. Aber ich will etwas anderes, und ich sehe jetzt, dass die kaiserlichen Theologen unsere Beschlüsse von Perugia benutzt haben, um weit über unsere Intentionen hinauszugehen. Ich will, dass der Papst dem Minoritenorden seine Armutsideale zugesteht. Und der Papst muss begreifen, dass der Orden seine häretischen Wucherungen und Auswüchse nur wieder in den Griff bekommt, wenn er sich die Ideale der Armut zu eigen macht. Ich träume nicht von einer Volksversammlung oder von einem Recht der Völker. Ich muss verhindern, dass der Orden in eine Vielzahl von Fratizellen zerfällt. Ich werde also nach Avignon gehen und, wenn nötig, einen Akt der Unterwerfung vollziehen. Über alles werde ich mit mir reden lassen, außer über das Armutsprinzip.«
»Du weißt hoffentlich«, sagte Ubertin,
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