Die historischen Romane
den Fortgang der Dahingeschiedenen, aber von einer Anklage bräuchtet ihr selbst euch nicht reinzuwaschen vor dem Throne des Herrn. So meint ihr. Narren!« rief Jorge mit Donnerstimme. »Narren und Pharisäer! Wer getötet hat, trägt die Last seiner Schuld vor Gott, doch nur weil er es hingenommen hat, sich zum Vollstrecker der Pläne Gottes zu machen. So wie es notwendig war, dass jemand Unseren Herrn Jesus verriet in Gethsemane, damit das Mysterium der Erlösung vollbracht werden konnte, und doch bestrafte der Herr mit Verdammnis und ewiger Schande den, der da verraten hatte, so hat auch in diesen Tagen hier jemand gesündigt, indem er uns Tod und Verderben brachte.
Ich aber sage euch, dieses Verderben ist, wenn nicht von Gott gewollt, so doch zumindest zugelassen worden von Gott als Strafe für unsere Hoffart!«
Er verstummte und ließ den leeren Blick über die dunkle Versammlung gleiten, als könne er mit den Augen ihre Gefühle erspähen. In Wahrheit genoss er jedoch mit den Ohren ihr betroffenes Schweigen.
»In dieser Bruderschaft«, fuhr er fort, »züngelt seit Langem die Natter der Hoffart. Doch welcher Hoffart? Der Hoffart des Spiels mit der Macht, hier in diesem weltabgeschiedenen Kloster? Gewiss nicht. Der Hoffart des Reichtums? Ach, meine Brüder, schon ehe die Welt widerhallte von langen Querelen über die Armut und den Besitz, schon seit den Zeiten unseres heiligen Ordensgründers haben wir, auch wenn wir alles hatten, nie etwas besessen, stets war unser einziger wahrer Reichtum die Befolgung der Regel, das Gebet und die Arbeit. Doch zur Arbeit, zur Arbeit unseres Ordens und insbesondere dieses Klosters gehört – und zwar als ihr Wesenskern – das Studium und die Bewahrung des Wissens. Ich sage Bewahrung und nicht Erforschung, denn es ist das Proprium des Wissens als einer göttlichen Sache, dass es abgeschlossen und vollständig ist seit Anbeginn in der Vollkommenheit des Wortes, das sich ausdrückt um seiner selbst willen. Ich sage Bewahrung und nicht Erforschung, denn es ist das Proprium des Wissens als einer menschlichen Sache, dass es vollendet und abgeschlossen worden ist in der Zeitspanne von der Weissagung der Propheten bis zu ihrer Deutung durch die Väter der Kirche. Es gibt keinen Fortschritt, es gibt keine epochale Revolution in der Geschichte des Wissens, es gibt nur fortdauernde und erhabene Rekapitulation. Die Geschichte der Menschheit schreitet voran in unaufhaltsamem Laufe von der Schöpfung durch die Erlösung bis zur Wiederkunft des triumphierenden Christus, der herabfahren wird in strahlendem Glanze, zu richten die Lebendigen und die Toten, doch das göttliche und menschliche Wissen folgt diesem Laufe nicht: Fest wie ein Fels, der nicht wankt, erlaubt es uns, wenn wir in Demut und aufmerksam seiner Stimme lauschen, diesem Laufe zu folgen und ihn vorauszusagen, aber es wird von ihm nicht berührt. Ich bin, der ich bin, sagte der Gott der Juden. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, sagte Unser Herr Jesus Christus. Dies sind die Kernsätze, und das ganze Wissen ist nichts anderes als das staunende Kommentieren dieser beiden ehernen Wahrheiten. Alles, was über sie hinaus gesagt worden ist, wurde vorgebracht von den Propheten, den Evangelisten, den Kirchenvätern und den Doctores, um diese beiden Kernsätze klarer zu machen. Und zuweilen kam auch ein brauchbarer Kommentar von den Heiden, die sie nicht kannten, und ihre Worte sind eingefügt worden in die christliche Tradition. Darüber hinaus aber gibt es nichts mehr zu sagen. Nur das Gesagte wieder und wieder zu überdenken, auszulegen und zu bewahren. Dies und nichts anderes war und ist und muss bleiben die Aufgabe unserer Abtei mit ihrer glänzenden Bibliothek! Im Orient, heißt es, habe einst ein Kalif die Bibliothek einer hochberühmten, stolzen und glorreichen Stadt in Flammen gesteckt und gesagt, während Tausende von Büchern verbrannten, sie könnten getrost und müssten sogar verschwinden, denn entweder wiederholten sie nur, was der Koran lehrt, und dann seien sie unnütz, oder sie widersprächen dem heiligen Buche der Ungläubigen, und dann seien sie schädlich. Die Doctores der römischen Kirche und wir mit ihnen denken nicht so. Alles, was nach Erläuterung und Klärung der Heiligen Schrift klingt, muss aufbewahrt werden, denn es erhöht ihren Ruhm; nichts, was ihr widerspricht, darf vernichtet werden, denn nur wenn es aufbewahrt wird, kann es von denen, die dazu befähigt und durch ihr Amt berufen sind,
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