Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
So also, dachte ich, warten die Leiber der begrabenen Heiligen auf die Auferstehung des Fleisches? Aus diesen Splittern sollen sich dereinst jene Organismen wieder zusammenfügen, die, im strahlenden Licht der Anschauung Gottes, ihre ganze natürliche Sinnlichkeit wiedergewinnend, alles wahrnehmen werden, selbst noch, wie Pipernus schrieb, die minimas differentias odorum?
    Eine Berührung riss mich aus meinen Meditationen. Es war William, der mir die Hand auf die Schulter legte. »Ich gehe jetzt«, sagte er, »ich muss noch einiges nachlesen im Skriptorium...«
    »Aber man bekommt doch keine Bücher«, sagte ich. »Benno hat Order...«
    »Ich muss nur nochmal die Bücher durchsehen, die ich gestern gelesen habe, sie sind alle noch im Skriptorium auf dem Tisch des Venantius. Du kannst hierbleiben, wenn du willst.
    Diese Krypta ist wirklich ein schönes Nachwort zu den Debatten über die Armut, die du in diesen Tagen miterlebt hast. Jetzt weißt du, warum deine lieben Brüder hier so übereinander herfallen, wenn es um die Abtwürde geht.«
    »So glaubt Ihr also, was Nicolas Euch da erzählt hat? Dann ginge es bei den Morden letztlich um einen Investiturstreit?«
    »Ich sagte dir schon, ich will im Augenblick noch keine Hypothese äußern. Nicolas hat eine ganze Menge erzählt. Einiges davon hat mich interessiert. Aber jetzt gehe ich, um eine andere Spur zu verfolgen. Oder vielleicht auch dieselbe, nur von einer anderen Seite... Und du lass dich nicht zu sehr von diesen Schreinen bezaubern. Stücke vom heiligen Kreuz habe ich in anderen Kirchen schon viele gesehen. Wenn die alle echt wären, wäre unser Erlöser nicht auf zwei überkreuzte Balken genagelt worden, sondern auf einen ganzen Wald.«
    »Meister!« rief ich entsetzt.
    »So ist es, Adson. Und es gibt noch reichere Schätze als diesen hier. Vor Jahren sah ich im Kölner Dom den Schädel Johannes’ des Täufers im Alter von zwölf Jahren.«
    »Wirklich?« rief ich bewundernd aus. Und dann, von einem plötzlichen Zweifel erfasst: »Aber der Täufer war doch viel älter, als er geköpft wurde!«
    »Der andere Schädel liegt sicher in einem anderen Kirchenschatz«, sagte William mit todernster Miene. Nie merkte ich bei meinem Meister, wann er scherzte. Wenn man in meiner Heimat einen Scherz machen will, dann sagt man etwas und bricht in geräuschvolles Lachen aus, damit alle Anwesenden auch richtig mitlachen können. William dagegen lachte nur, wenn er ernste Dinge sagte, und blieb vollkommen ernst, wenn er vermutlich scherzte.

 
     
    Sechster Tag
TERTIA
    Worin Adson beim Hören des »Dies irae« einen Traum hat, man kann es auch eine Vision nennen.
     
    W illiam entbot Nicolas seinen Gruß und ging hinauf ins Skriptorium. Ich hatte inzwischen genug von dem Schatz gesehen und beschloss, mich in die Kirche zu setzen, um für Malachias’ Seele zu beten. Gemocht hatte ich diesen Mann nie besonders, er war mir unheimlich gewesen, und ich verhehle nicht, dass ich ihn lange verdächtigt hatte, der Urheber aller hier geschehenen Verbrechen zu sein. Nun hatte ich erfahren, dass er vielleicht bloß ein armer Teufel gewesen war, gepeinigt von unbefriedigten Leidenschaften, ein irdener Krug zwischen eisernen Krügen, verdüstert, weil er sich verloren fühlte, schweigsam und ausweichend, weil ihm bewusst war, dass er nichts zu sagen hatte. Ich schämte mich ein wenig, ihn verdächtigt zu haben, und dachte, ein Gebet für sein Schicksal im Jenseits würde mein schlechtes Gewissen etwas beruhigen können.
    Das Kirchenschiff lag jetzt in einem fahlen Zwielicht, der weite Raum war beherrscht vom Katafalk des Verstorbenen und erfüllt vom gleichmäßigen Gemurmel der Mönche, die das Totengebet rezitierten.
    Im Kloster zu Melk hatte ich schon mehrere Male den Heimgang eines Mitbruders erlebt. Es war ein Geschehen gewesen, das ich zwar gewiss nicht als heiter bezeichnen könnte, aber doch stets als feierlich empfunden hatte, beherrscht von gesammelter Ruhe und einem entspannten Gefühl des Friedens. Alle traten der Reihe nach in die Zelle des Sterbenden, um ihm Trost zu spenden mit guten Worten, und jeder dachte bei sich, wie glücklich doch dieser Sterbende war, da er nun ein tugendhaftes Leben beschloss und bald schon vereint sein würde mit dem Chor der himmlischen Engel in ewiger Freude. Ein Teil dieser Feierlichkeit, ein Hauch dieser frommen Neidgefühle übertrug sich gewiss auf den Sterbenden, so dass er am Ende heiter entschlief. Wie anders waren die Todesfälle der

Weitere Kostenlose Bücher