Die historischen Romane
sagte: »Aufgabe des Säulenheiligen ist es, die eigenen Gedanken aus der Ferne eintreffen zu sehen. Ich wusste, dass du kommen würdest, aber du hast zu viel Zeit gebraucht, und ebenso lange wirst du für deine Rückkehr brauchen. Die Dinge laufen auf dieser Welt, wie sie laufen müssen. Wisse, dass der Knabe gerade stirbt, ja, dass er jetzt in diesem Augenblick schon gestorben ist, Gott erbarme sich seiner.«
Der Ritter kehrte zurück, und der Knabe war bereits tot. Als sich die Nachricht herumsprach, riefen viele in Selymbria, Baudolino habe die Gabe der Hellseherei und habe gesehen, was viele Meilen entfernt geschah. Unweit der Säule stand jedoch die Kirche des heiligen Mardonios, deren Priester Baudolino hasste, weil er ihm seit Monaten die milden Gaben seiner einstigen Schäfchen entzog. Der fing nun an zu sagen, das sei ja ein schönes Wunder gewesen, was Baudolino da vollbracht habe, und solche Wunder könne ein jeder vollbringen. Er ging unter die Säule und rief zu Baudolino hinauf, wenn ein Säulenheiliger noch nicht einmal in der Lage sei, einem Jungen einen Pfeil aus dem Auge zu ziehen, dann sei das genauso, als wenn er den Jungen umgebracht habe.
Baudolino erwiderte: »Das Bestreben, den Menschen gefällig zu sein, lässt jede geistige Blüte verwelken.«
Der Priester warf einen Stein nach ihm, und sofort liefen einige Exaltierte zusammen und schleuderten ebenfalls Steine und Erdklumpen nach der Plattform. Sie warfen den ganzen Tag lang weiter, während Baudolino zusammengekauert in seinem Pavillon hockte und sich die Hände vor das Gesicht hielt. Erst als es dunkel wurde, trollten sie sich.
Am nächsten Morgen kam Niketas, um nach seinem Freund zu sehen, und fand ihn nicht mehr. Die Säule war verwaist. Besorgt kehrte er nach Hause zurück und entdeckte Baudolino in Theophilattos' Stall. Er hatte sich eine Wanne mit Wasser gefüllt und war dabei, sich mit einem Messer den ganzen Dreck abzuschaben, der sich auf ihm angesammelt hatte. Er hatte sich, so gut es ging, den Bart und die Haare geschnitten. Er war braungebrannt von Sonne und Wind, schien nicht zu sehr abgemagert, hatte nur etwas Mühe, aufrecht zu stehen, und bewegte Arme und Schultern, um die steifen Rückenmuskeln zu lockern.
»Hast du gesehen? Das einzige Mal in meinem Leben, dass ich die Wahrheit und nur die Wahrheit gesagt habe, haben sie mich beinahe gesteinigt.«
»Das ist auch den Aposteln passiert. Du warst ein Heiliger geworden und lässt dich so schnell entmutigen?«
»Vielleicht hatte ich ein Zeichen vom Himmel erwartet. In den letzten Monaten haben sich etliche Münzen bei mir angesammelt. Ich habe einen der Söhne von Theophilattos gebeten, mir Kleider, ein Pferd und ein Maultier zu kaufen. Irgendwo im Hause müssen auch noch meine Waffen sein.«
»Du willst fortgehen?« fragte Niketas.
»Ja«, sagte Baudolino. »In der Zeit auf der Säule habe ich vieles begriffen. Ich habe begriffen, dass ich gesündigt hatte, aber nie, um zu Macht und Reichtum zu kommen. Ich habe begriffen, dass ich, wenn ich Vergebung erlangen will, drei Versprechen einlösen muss. Erstens: Ich hatte mir vorgenommen, einen Gedenkstein für Abdul errichten zu lassen, und deswegen hatte ich seinen Täuferkopf an mich genommen. Das Geld ist nun anderswoher gekommen, und das ist besser so, denn es stammt nicht aus simonistischem Handel mit falschen Reliquien, sondern aus Spenden von guten Christen. Ich werde die Stelle wiederfinden, wo wir Abdul begraben haben, und werde ihm eine Kapelle errichten.«
»Aber du weißt doch gar nicht mehr, wo er gestorben ist!«
»Gott wird mich führen, und ich habe Kosmas' Karte im Kopf. Zweitens: Ich hatte meinem guten Vater Friedrich – um nicht von Bischof Otto zu reden – ein hochheiliges Versprechen gegeben, und bis heute habe ich es nicht gehalten. Ich muss ins Reich des Priesters Johannes gelangen. Sonst hätte ich mein Leben umsonst gelebt.«
»Aber ihr habt doch mit Händen gegriffen, dass es nicht existiert!«
»Wir haben mit Händen gegriffen, dass wir nicht hingelangt sind. Das ist etwas anderes.«
»Aber ihr seid euch doch klar geworden, dass die Eunuchen logen.«
»Dass sie vielleicht logen. Aber nicht gelogen haben konnten der gute Bischof Otto und die ganze Tradition, die davon handelt, dass es den Priester irgendwo gibt.«
»Aber du bist nicht mehr so jung wie damals, als du es das erste Mal probiert hattest!«
»Ich bin klüger geworden. Drittens: Ich habe dort einen Sohn oder eine
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