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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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Meter breit. Vor dem Spiegel war mit weißer Sprühfarbe ein Halbkreis auf das braune Gras gesprüht, der den Aktionsradius markierte. Im Moment befanden sich in diesem Bereich nur ein Tisch, ein Paar Klappstühle und eine Steckdosenleiste, deren Anschlusskabel zu einem Generator außerhalb des Zeltes führte. Das Summen von Leuchtstoffröhren, die an Schienen entlang der Zeltwände hingen, vermischte sich in der drückenden Hitze mit dem Surren von Fliegen.
    Gary und ich schauten uns an und begannen, den Karren mit der Ausrüstung zum Tisch zu schieben. Als wir die Farblinie überquerten, schien der Spiegel durchsichtig zu werden, als würde hinter einer getönten Scheibe jemand langsam die Helligkeit erhöhen. Die Illusion räumlicher Tiefe war verblüffend. Ich hatte den Eindruck, geradewegs hineingehen zu können. Als der Spiegel voll erleuchtet war, wirkte er wie das lebensgroße Diorama eines halbrunden Raumes. Einige größere Gegenstände, die vielleicht Möbel darstellten, befanden sich in dem Raum, allerdings keine Außerirdischen. In der gekrümmten Wand am Ende des Raumes war eine Tür.
    Wir beeilten uns, alles anzuschließen: Mikrofone, Sonagrafen, Laptops und Lautsprecher. Während wir das taten, erwartete ich gespannt die Ankunft der Außerirdischen und schaute immer wieder zu dem Spiegel hinüber. Dennoch erschrak ich, als schließlich einer von ihnen eintrat.
    Er sah aus wie ein Fass, das sich im Schnittpunkt von sieben Gliedmaßen befand, polysymmetrisch, sodass jedes Glied als Arm oder Bein fungieren konnte. Der Außerirdische ging auf vier Beinen, während er drei nicht benachbarte Arme an der Seite zusammengerollt hatte. Gary nannte sie »Heptapoden«.
    Obwohl man mir Videoaufnahmen gezeigt hatte, sperrte ich die Augen auf. An den Gliedmaßen waren keine Gelenke zu erkennen. Anatomen vermuteten, dass ihnen so etwas wie Wirbelknochen Festigkeit verliehen. Egal, wie ihr innerer Aufbau beschaffen war, das Zusammenspiel der Gliedmaßen war auf verstörende Art und Weise fließend. Der »Oberkörper« schwebte wie ein Luftkissenboot auf den wogenden Gliedern.
    Sieben lidlose Augen waren ringförmig um das obere Ende des Heptapodenkörpers angeordnet. Das Wesen bewegte sich wieder auf die Türöffnung zu, aus der es gekommen war, gab einige zischende Töne von sich und kehrte, gefolgt von einem zweiten Heptapoden, in die Mitte des Raumes zurück. Dabei hatte es sich nicht einmal umgedreht. Unheimlich, aber logisch, denn mit Augen auf allen Seiten konnte jede Richtung »vorne« sein.
    Gary hatte meine Reaktionen beobachtet. »Bereit?«, fragte er.
    Ich holte tief Luft. »So weit eben möglich.« Früher hatte ich öfter Feldforschung im Amazonasgebiet betrieben, doch das waren immer bilinguale Begegnungen gewesen: Entweder konnten meine Informanten ein wenig Portugiesisch, auf dem ich dann aufbaute, oder die örtlichen Missionare hatten mir zuvor einige Grundkenntnisse der Eingeborenensprache vermittelt. Nun würde ich zum ersten Mal tatsächlich ein monolinguales Forschungsvorhaben durchführen. In der Theorie war das gar nicht so schwer ...
    Ich ging auf den Spiegel zu, und einer der Heptapoden auf der anderen Seite tat es mir gleich. Das Bild wirkte so echt, dass ich eine Gänsehaut bekam. Ich konnte die Textur auf der grauen Haut erkennen, wie in Kringeln und Wirbeln angeordnete Kordsamtfurchen. Der Spiegel hatte keinen Geruch, was die Situation nur noch seltsamer machte.
    Ich zeigte auf mich selbst und sagte langsam: »Mensch«, zeigte dann auf Gary: »Mensch.« Schließlich deutete ich auf jeden der beiden Heptapoden und sagte: »Was seid ihr?«
    Keine Reaktion. Ich versuchte es noch einmal, zweimal.
    Einer der Heptapoden zeigte mit einer Extremität auf sich selbst, die vier Finger am Ende zusammengelegt. Was für ein Glück. In einigen Kulturen deutet man mit dem Kinn auf andere Leute. Ich hätte nicht gewusst, auf welche Geste ich hätte achten sollen, wenn der Heptapode nicht eines seiner Gliedmaßen benutzt hätte. Ich hörte einen Haspellaut und sah, wie auf der Oberseite des Heptapoden eine runzelige Körperöffnung vibrierte. Er sprach. Dann zeigte er auf seinen Gefährten und haspelte noch einmal.
    Ich ging zu meinem Computer, auf dessen Bildschirm zwei nicht zu unterscheidende Sonagramme die Haspellaute abbildeten. Ich markierte einen Ausschnitt, sodass ich ihn wiederholen konnte. Wieder zeigte ich auf mich und Gary und sagte jeweils »Mensch«, dann auf die Heptapoden und ließ über

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