Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)
Universum war eine Sprache mit einer vollkommen zweideutigen Semantik. Jedes physikalische Ereignis war eine Äußerung, die auf zwei völlig verschiedene Arten formuliert werden konnte, eine davon kausal, die andere teleologisch. Beide waren stichhaltig, und keine konnte ausgeschlossen werden, ganz gleich, wie umfangreich die Informationen über den Zusammenhang waren.
Als die Vorfahren der Menschen und der Heptapoden vom ersten Bewusstseinsfunken durchzuckt wurden, nahmen sie beide dieselbe physikalische Welt wahr, aber ihre Wahrnehmungen formulierten sie unterschiedlich. Die Weltbilder, die sich daraus entwickelten, waren das Ergebnis dieses Unterschiedes. Das Weltbild der Menschen gründete auf einer sequenziellen Wahrnehmung der Wirklichkeit, das Weltbild der Heptapoden dagegen auf einer simultanen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wir erlebten die Welt als Abfolge von Ereignissen und nahmen ihre Beziehung zueinander als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung wahr. Die Heptapoden erlebten alle Ereignisse als gleichzeitig und nahmen die minimierende oder maximierende Zielsetzung wahr, die ihnen allen zugrunde lag.
Ich habe einen immer wiederkehrenden Traum, in dem du stirbst. Darin bin ich diejenige, die Felsen hinaufklettert – ich, kannst du dir das vorstellen? –, und du bist drei Jahre alt und sitzt in einem Tragegestell, das ich auf dem Rücken habe. Wir befinden uns nur ein kleines Stück unterhalb eines Felsvorsprungs, auf dem wir uns ausruhen können, und du kannst nicht warten, bis ich ihn erreicht habe. Du beginnst aus dem Tragegestell zu steigen; ich sage dir, dass du das lassen sollst, aber natürlich hörst du nicht auf mich. Ich spüre, wie sich dein Gewicht von einer Seite auf die andere verlagert, als du aus dem Gestell kraxelst; dann spüre ich deinen linken Fuß auf meiner Schulter, dann deinen rechten. Ich schreie dich an, aber ich habe keine Hand frei, um nach dir zu greifen. Ich kann das Wellenmuster auf deinen Turnschuhen sehen, als du zu klettern beginnst, und dann sehe ich, wie sich unter einem deiner Schuhe ein Steinsplitter lockert. Du rutschst geradewegs an mir vorbei, und ich kann keinen Finger rühren. Ich blicke nach unten und sehe, wie du unter mir immer kleiner wirst.
Dann befinde ich mich plötzlich in der Leichenhalle. Ein Sanitäter lüftet das Tuch von deinem Gesicht, und ich sehe, dass du fünfundzwanzig bist.
»Alles in Ordnung?«
Ich saß aufrecht im Bett. Gary war von meiner plötzlichen Bewegung wachgeworden. »Es geht mir gut. Ich war nur etwas durcheinander. Wusste für einen Augenblick nicht, wo ich bin.«
Verschlafen sagte er: »Wir können das nächste Mal bei dir bleiben.«
Ich küsste ihn. »Keine Sorge. Deine Wohnung ist schon in Ordnung.« Wir schmiegten uns aneinander, mein Rücken gegen seine Brust gedrückt, und schliefen wieder ein.
Wenn du drei Jahre alt sein wirst, werden wir eine steile Wendeltreppe hinaufgehen, und ich werde deine Hand ganz besonders fest halten. Du wirst deine Hand wegziehen. »Ich kann das alleine«, wirst du behaupten und dich von mir wegbewegen, um es zu beweisen, und ich werde mich an diesen Traum erinnern. Diese Szene wird sich in deiner Kindheit unzählige Male wiederholen. Wenn ich deine Veranlagung bedenke, allem und jedem zu widersprechen, könnte ich mir fast einreden, dass es meine Versuche waren, dich zu beschützen, die deine Liebe zum Klettern weckten: erst die Gerüste auf dem Spielplatz, dann die Bäume in den Grünanlagen am Rande unseres Viertels, die Kletterwände im Sportverein und schließlich die Felsmassive in den Nationalparks.
Ich vollendete den letzten Wortstrang des Satzes, legte die Kreide beiseite und setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl. Dann lehnte ich mich zurück und ließ meinen Blick über den riesigen Heptapod B-Satz schweifen, den ich geschrieben hatte und der sich über die gesamte Tafel meines Büros erstreckte. Der Satz umfasste mehrere komplexe Teilsätze, und ich hatte es geschafft, sie alle recht elegant miteinander zu verbinden.
Beim Betrachten eines solchen Satzes verstand ich, warum die Heptapoden ein semasiografisches Schriftsystem wie Heptapod B entwickelt hatten. Es eignete sich besser für eine Lebensform, deren Bewusstsein simultan arbeitete. Für Heptapoden war Sprache ein Nadelöhr, da sie Worte in sequenzieller Folge aneinanderreihen mussten. Ihre Schrift allerdings gestattete es ihnen, sämtliche Zeichen auf einem Blatt gleichzeitig zu betrachten. Warum also
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