Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)
sollten sie ihr Schriftsystem in eine glottografische Zwangsjacke stecken, die dazu führte, dass das Schreiben genauso sequenziell wurde wie das Sprechen? Das käme ihnen nie in den Sinn. Semasiografische Schrift nutzte ganz selbstverständlich die Vorzüge der Zweidimensionalität eines Blattes; statt Morpheme einzeln aneinanderzureihen, konnte man sie mit einem Blick auf die Seite alle gleichzeitig erfassen.
Nun also, nachdem Heptapod B mich mit einem simultanen Bewusstseinszustand vertraut gemacht hatte, verstand ich den Sinn der Grammatik von Heptapod A: Das, was meinem an sequenzielle Abfolgen gewöhnten Verstand unnötig verzwickt erschien, begriff ich nun als Versuch, innerhalb der Beschränkungen sequenzieller Sprache ein gewisses Maß an Flexibilität einzuführen. Obwohl es mir nun leichter fiel, mit Heptapod A umzugehen, kam es mir immer noch wie ein ärmlicher Ersatz für Heptapod B vor.
Es klopfte an der Tür, und Gary schaute in mein Büro. »Colonel Weber wird gleich da sein.«
Ich verzog das Gesicht. »In Ordnung.« Weber wollte einer Sitzung mit Haspel und Himbeere beiwohnen. Ich sollte dabei als Übersetzerin fungieren, eine Aufgabe, für die ich nicht ausgebildet war und die ich verabscheute.
Gary trat in mein Büro und machte die Tür hinter sich zu. Er zog mich von meinem Stuhl und küsste mich.
Ich lächelte. »Versuchst du mich aufzumuntern, bevor er hier eintrifft?«
»Nein, ich versuche mich aufzumuntern.«
»Du warst überhaupt nicht daran interessiert, mit den Heptapoden zu sprechen, oder? Du hast nur deshalb bei diesem Projekt mitgemacht, um mich ins Bett zu kriegen.«
»Ah, du hast mich durchschaut.«
Ich sah ihm in die Augen. »Darauf kannst du dich verlassen«, sagte ich.
Ich erinnere mich, wie du einen Monat alt sein wirst und ich aus dem Bett taumle, um dich um zwei Uhr morgens zu füttern. Dein Kinderzimmer wird von diesem »Babygeruch« nach Popocreme und Talkumpuder erfüllt sein, mit einer vagen Ammoniaknote aus der Ecke mit dem Eimer voller Windeln. Ich werde mich über dein Bettchen beugen, dich schreiendes Etwas hochheben und mich in den Schaukelstuhl setzen, um dich zu stillen.
Das englische Wort »infant« – »Säugling« – leitet sich von dem lateinischen Ausdruck für »nicht fähig zu sprechen« ab, aber eines kannst du perfekt ausdrücken, ohne zu sprechen: »Ich leide«, und das wirst du ohne zu zögern unablässig tun. Ich bewundere dich wirklich dafür, wie hingebungsvoll du dich dieser Äußerung widmest; wenn du schreist, wirst du zur leibhaftigen Empörung selbst, jede Faser deines Körpers dient dem Ausdruck dieses Gefühls. Schon komisch: Wenn du zufrieden bist, scheinst du zu leuchten, und wenn jemand ein Portrait von dir in diesem Zustand malen wollte, würde ich darauf bestehen, dass er den Lichtkranz nicht vergisst. Aber wenn du unzufrieden bist, wirst du zu einer Sirene, nur dazu gemacht, Lärm von dir zu geben. Ein Portrait von dir sähe dann einfach aus wie eine Alarmglocke.
In diesem Abschnitt deines Lebens wird für dich keine Vergangenheit oder Zukunft existieren; bis ich dir meine Brust gebe, wirst du keine Erinnerungen an zurückliegende Befriedigungen haben oder Erwartungen auf zukünftige Linderungen hegen. Sobald du zu nuckeln beginnst, wird sich alles ändern, und die Welt wird wieder in Ordnung sein. JETZT ist der einzige Augenblick, den du zur Kenntnis nehmen wirst; du wirst in der Gegenwart leben. Das ist in vielerlei Hinsicht ein beneidenswerter Zustand.
Die Heptapoden sind weder frei, noch folgen sie einem Zwang, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir diese Begriffe verstehen. Sie folgen nicht ihrem Willen, sind aber auch keine hilflosen Automaten. Das Bewusstsein der Heptapoden zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass ihre Handlungen mit dem Lauf der Geschichte übereinstimmen, sondern ihre Absichten richten sich auch nach den Zielen der Geschichte. Sie handeln, um die Zukunft hervorzubringen, um die Chronologie der Ereignisse in die Tat umzusetzen.
Freiheit ist keine Illusion. Im Rahmen eines sequenziell operierenden Bewusstseins ist sie zweifellos real. Aus der Sicht eines simultan arbeitenden Bewusstseins jedoch ist Freiheit, genauso wie Zwang, bedeutungslos. Lediglich der Kontext ist ein anderer, wenngleich keiner von beiden eine größere Berechtigung hat. Das ist wie bei dieser berühmten optischen Täuschung, der berühmten Strichzeichnung, auf der man entweder eine elegante junge Frau mit vom Betrachter
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