Die Hueterin der Krone
Wer wird hinter ihre Fassade blicken und das verängstigte Kind und die verletzliche Frau sehen?«
In Brian regte sich etwas, das er nicht benennen konnte: weder Mitleid noch Bedauern, sondern ein Schimmer von etwas Komplexerem, das ihn beunruhigte. Ihre Augen waren so grau wie Lavendelblüten, aber klar wie Glas, und sie hatten seinem Blick mit unverwandter Herausforderung und sogar Geringschätzung standgehalten. Er konnte nicht das in ihr ausmachen, was der alternde Ritter sah, aber er kannte sie ja auch nicht. Aber er erkannte ihre Aufrichtigkeit und Integrität, und ihm war, als habe sie ihm mit einer gespitzten Schreibfeder diese Worte unauslöschlich in die Haut geritzt.
3
Turm von Rouen, Herbst 1125
Der Sturm war abgeflaut, das Zaumzeug und Geschirr der Pferde funkelte im friedlichen Sonnenlicht. Matildas rotes Seidengewand schimmerte im hellen Schein, ebenso wie die geschmeidigen Hermeline an ihrem Umhang und der juwelenbesetzte Stirnreif, der den weißen Seidenschleier hielt. Die Einwohner von Rouen waren in Scharen herbeigeströmt, um Zeuge ihrer Ankunft zu werden, und sie ließ die Ritter in ihrem Namen Almosen und andere Gaben verteilen, während die Herolde unter Fanfarenklängen vorausritten und verkündeten, dass die Kaiserinwitwe von Deutschland und Tochter des Königs Einzug in die Stadt halten werde. Ihr Herz schwoll vor Triumph und Stolz, als sie die Gasse entlangritt, die die jubelnde Menge gebildet hatte, und obwohl sie den Kopf würdevoll erhoben hielt, gestattete sie sich ein leichtes, dem Anlass angemessenes Lächeln.
Sable, Brian FitzCounts Schlachtross, war ein temperamentvolles Tier, aber gut geschult und gehorsam. FitzCount selbst ritt einen kräftigen, gedrungenen Kastanienbraunen, der für seine langen Beine etwas zu klein war, aber er gab vor, es nicht zu bemerken. Nach den Missgeschicken des gestrigen Tages hatte es keine weiteren Schwierigkeiten mehr gegeben, und alles war nach Plan verlaufen. Sie war noch nicht bereit, sich endgültig ein positives Urteil über ihn zu bilden, sie würde abwarten, wie er sich machte.
Als sie in den Hof des Herzogspalastes einritten, übertrug sich ihre innere Anspannung auf das Pferd, das mit den Ohren spielte und zu tänzeln begann. Ihr letzter Besuch kurz vor ihrer Verlobung lag sechzehn Jahre zurück, und damals hatte sie nur wenige Tage hier verbracht. Ihre Erinnerungen glichen nebulösen Geistern, die über die massiven Steine und das Pflaster huschten.
Ein Stallbursche eilte herbei und griff nach Sables Zügeln. Drogo stieg ab, um ihr aus dem Sattel zu helfen, doch Brian FitzCount kam ihm zuvor. Als er ihre Hände nahm, bemerkte sie die frischen Tintenflecke. Demnach hatte er noch in seinem Zelt gearbeitet, nachdem er sich von ihr verabschiedet hatte. Sie empfand die Vorstellung, dass er in den dunklen Nachtstunden, während die anderen schliefen, noch wach und emsig tätig war, als merkwürdig tröstlich.
Ein hochgewachsener, breit gebauter Mann kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Sie starrte ihn einen Moment lang verwirrt an, dann schien sich der Boden unter ihren Füßen zu bewegen, und die Vergangenheit verschmolz mit der Gegenwart, als sie ihren älteren Halbbruder erkannte. »Robert?«, flüsterte sie, dann nannte sie noch ein Mal laut seinen Namen. »Robert!«
Seine dunkelblauen Augen leuchteten auf, als er ihre Hände ergriff und sie mit herzlicher Wärme und trotzdem in der Öffentlichkeit den Anstand wahrend auf beide Wangen küsste. »Schwester! Hattest du eine gute Reise?«
»Größtenteils ja. Allerdings fing meine Stute gestern an zu lahmen.«
»Ich habe mich schon gewundert, dich auf Brians Sable zu sehen.« Er blickte zu Brian hinüber. »Ich gehe davon aus, dass er sich um dich gekümmert hat?«
»Er hat alles getan, was in seiner Macht stand«, erwiderte sie mit unbewegter Miene.
Brian hob die Brauen, und Robert kicherte.
»Das verheißt nichts Gutes.«
»Ich bin zu spät zum Treffpunkt gekommen«, erklärte Brian. »Und der Sturm letzte Nacht hat das Aufbauen der Zelte nicht unbedingt leichter gemacht, um es vorsichtig auszudrücken. Ich dachte, wir würden bis Outremer geweht!« Er entschuldigte sich mit einer Verneigung, um dafür zu sorgen, dass Matildas Gepäck in ihre Kammer geschafft wurde.
Robert wurde ernst.
»Du kannst Brian dein Leben anvertrauen. Ich verbürge mich für ihn. Er ist einer der klügsten Männer im Gefolge unseres Vaters.«
»Ich nehme dich beim Wort«, lächelte sie. Robert war
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