Die Hüterin der Quelle
keine Antwort, natürlich nicht.
Selina hatte sich angewöhnt, zu kommen und zu gehen, ganz wie ihr der Sinn stand. Regeln und Verbote waren für sie wie zu enge Kleider, die sie bei der erstbesten Gelegenheit abstreifte. Versuchte Marie, sie deshalb zur Rede zu stellen, benützte sie ihre Taubheit als Schutzwall.
»Hab sie einfach nur lieb«, sagte Veit, wenn sie sich darüber beklagte. »Das ist das Allerwichtigste. Sie hat so Schweres durchmachen müssen. Und sie trägt es so tapfer! Wenn du nur etwas Geduld mit ihr hast, wird alles gut. Selina ist doch unsere kleine Tochter, Marie.«
Geduld – er hatte gut reden. Als hätte sie nicht schon fuderweise davon aufgebracht! Aber dass Selina nicht daran dachte, sie, die zweite Frau ihres Vaters, jemals als Mutter zu akzeptieren, das zeigte sie unmissverständlich, Tag für Tag.
Sie hatte dem Mädchen Lesen und Schreiben beigebracht, wie sie selber es auch von ihrem Vater gelernt hatte. Schon weil sie wusste, wie schwierig es für Selina sein würde, sich künftig zu verständigen. Aber welche Mühe war es gewesen, was für ein Aufwand! Mit tausend Listen hatte Marie versucht, Selina die richtigen Töne zu entlocken. Schließlich hatte sie sie in ihrer Verzweiflung vor einer brennenden Kerze lesen lassen, damit sie wenigstens den Hauch sehen konnte, den ihre Stimme verursachte, und Selinas Hand an den eigenen Kehlkopf gelegt, um die Schwingungen zu spüren.
Mit dem Ergebnis konnten beide zufrieden sein. Allem anderen jedoch verweigerte Selina sich.
Vergeblich bemühte sich Marie, sie zu einfachen Näharbeiten anzuleiten, damit sie irgendwann zusammen die Gewänder für die Krippenfiguren herstellen könnten. Aber das Mädchen zerbrach die Nadeln, zerriss feine Spitzen oder machte so große Stiche, dass sich nichts davon gebrauchen ließ. Niemand wusste, was wirklich in ihrem Kopf vorging. Der Einzige, der sie immer zu verstehen schien, war ihr großer Bruder.
»Wo steckt eigentlich Simon?«, fragte Marie. »Hat er deinen Vater auf die Jagd begleitet?«
»In der Werkstatt.« So viel geredet wie heute Morgen hatte sie schon lange nicht mehr. Selinas Finger flatterten. Marie wusste, dass sie damit sprechen konnte. Auf ihre Weise. Aber nur Simon war in der Lage, diese Botschaften zu verstehen. »Simone macht Hände. Immer nur Hände. Hände aus Holz. Große Hände. Kleine Hände. Er wird schon ganz krank vor lauter Händen.«
Als Einzige aus der Familie bestand sie darauf, ihn weiterhin Simone zu nennen. Selina hielt alles in Ehren, was an ihre italienische Heimat erinnerte, manchmal bockig, manchmal voller Wehmut. Wie sollte man dagegen angehen? In Neapel hatte das Mädchen noch die Vögel singen hören, das Rauschen des Meeres, Flötenklänge. Die Stimme ihrer Mutter, ihres Vaters, ihres Bruders. Stimmen, die sie liebte. Jetzt gab es für sie nur noch die Erinnerung daran.
»Dann wollen wir ihn lieber nicht stören. Kommst du nun?«
Selina gab kein Zeichen. Und wieder einmal fragte sich Marie, ob sie sie überhaupt verstehen wollte.
Kuni kannte sich aus. Deshalb hatte Kuni bei ihnen auch das Sagen. Eigentlich war es immer Kuni, die anschaffte, von jeher, und bislang war das auch in Ordnung gewesen. Sie war die Älteste von ihnen, und die Stadt war ihr vertraut bis in die verstecktesten Winkel. Kuni wusste, welcher Bäcker frühmorgens ein paar warme Wecken verschenkte, wo die besten Kirschen wuchsen, welches Kloster Armensuppe verteilte.
Und wenn sich auf redlichem Weg nichts beschaffen ließ, wusste Kuni, was sie tun mussten, um nicht zu verhungern. Niemand hatte schnellere Finger als sie, nicht einmal Toni, den ein lahmer Würzburger zum Diebstahl abgerichtet hatte. Ihm kam dabei zugute, dass er sehr klein war, viel zu klein für seine elf Jahre; wenn es auch beim Betteln half und beim Stehlen manchmal nützlich sein konnte, so trug er doch immer schwerer an dieser Last. Inzwischen war ihm sogar Kaspar über den Kopf gewachsen, der jüngere Bruder von Lenz. Vielleicht gerieten Tonis Geschichten deshalb immer weitschweifiger. Die anderen aus der Bande mochten sie schon nicht mehr hören, weil er sie schon so oft erzählt hatte.
Toni hatte die beiden Brüder vor zwei Jahren im Seelhaus kennen gelernt, der Aufnahmestelle für Waisen und Findelkinder am Kaulberg, und schon ein paar Wochen dort hatten ihnen genügt, um sich darüber zu verständigen, dass sie unter keinen Umständen bleiben wollten. Es lag weniger am kargen Essen und an den Prügeln, die man
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