Die Hure von Bremen - historischer Kriminalroman
war ihr allerdings nicht zumute. Nicht nach dem, was sie eben erfahren hatte.
»Iss etwas, ehe es kalt wird.« Mit einer Handbewegung forderte Frau Margarete sie auf, zuzugreifen. Gehorsam versuchte Lena die Brühe, in der klein geschnittenes Rindfleisch und Gemüse in Fett schwammen. Sie schmeckte wirklich sehr gut, und jetzt spürte sie auch, wie hungrig sie war. Dennoch musste sie sich beherrschen, nicht dem Verlangen nachzugeben, einfach wegzulaufen. Wohin sollte sie auch gehen? Ein Zuhause hatte sie vermutlich nicht mehr. Der Stiefvater würde sie nach einer ordentlichen Tracht Prügel sicherlich wieder hierher zurückbringen.
Frau Margarete aß nichts, sondern sah ihr mit einem gütigen Gesichtsausdruck zu. »Es gibt Regeln in diesem Haus, die eingehalten werden müssen. Wenn du sie befolgst, werden wir keinen Ärger haben.«
Lena nickte widerwillig. Ihre Gedanken kreisten immer noch um das Wort »beiliegen«.
»Wenn ein Mann sich eins der Mädchen ausgesucht hat, drängt sich keine andere dazwischen. Die Mädchen werden in den Kammern nicht gestört, es sei denn, sie rufen um Hilfe oder das Haus brennt.«
Langsam ließ Lena den Löffel sinken. Es wurde immer verrückter, oder hatte sie am Ende etwas falsch verstanden? Mit so viel Geduld, wie sie gerade noch aufbringen konnte, wartete sie auf eine weitere Erklärung.
»Keine Angst, das geschieht äußerst selten. Aber iss ruhig weiter.«
Lena schob die leere Schüssel von sich und nahm stattdessen ein Stück Fleisch.
»Wir gehen nicht in die Kirche. Ihr macht eure Vergehen im Gebet mit Gott selbst aus. Wenn ihr krank seid, kommt Marie zu uns. Sie ist Heilerin. Am Samstagabend verlassen wir die Stadt und lassen es uns am Sonntag außerhalb von Bremen in einem kleinen Haus gut gehen. Im Sommer könnt ihr dort in der Weser planschen oder einfach nur faul herumliegen.« Frau Margarete nippte an ihrem Becher.
Lena schwieg weiter, nahm sich noch ein Stück von dem Gebratenen, schob es sich in den Mund und kaute langsam, um sich selbst am Sprechen zu hindern. Sie hatte noch nie faul herumgelegen, außer als sie krank war und das Bett hüten musste, aber die Vorstellung gefiel ihr sogar.
Nachdem Frau Margarete ihren Becher abgestellt hatte, sprach sie weiter: »Wenn ihr etwas in der Stadt zu besorgen oder zu erledigen habt, fragt ihr mich vorher. Keine geht alleine und ohne Erlaubnis. Ihr tragt auf der Straße dieses Zeichen an eurem Kleid.« Sie deutete auf ihr eigenes Kleid, an dem dieses rote Band angebracht war.
»Ihr schaut keine Bürger direkt an, seht ihnen nicht ins Gesicht. Ihr sprecht nur das Nötigste außerhalb dieses Hauses und vermeidet jeden Blickkontakt. Man sagt uns den bösen Blick nach, den wir bedauerlicherweise nicht haben.« Nun grinste sie breit. »Hast du das so weit verstanden?«
Endlich durfte sie sprechen und platzte sofort mit ihrer Frage heraus. »Ich soll Männern beiliegen?«
»Ja, das wird für die nächsten Jahre deine Aufgabe sein.«
»Verzeihung, aber ich glaube, mir wird schlecht. Wo …?«
»Kotz nicht auf das Fell!« Frau Margrete sprang auf, zog Lena im Vorbeigehen vom Stuhl, riss die Tür auf und reichte ihr einen Eimer, der in einer Ecke auf dem Flur stand. Ohne jede Scham übergab Lena sich. Als sie fertig war, hielt Frau Margarete ihr ein nasses Tuch hin, das sie dankbar ergriff, um sich das Gesicht abzuwischen.
»Herr Gott. Wie ich es hasse.«
»Es tut mir leid«, stammelte Lena, als ihr bewusst wurde, wie schlecht sie sich benahm.
»Ach, Mädchen, doch nicht du. Eure Väter sind es, die mich wütend machen. Aber genug davon. Meinst du, es geht wieder?«
»Ich denke schon«, antwortete Lena erleichtert.
»Dann komm. Sicher hast du noch Fragen.«
»Es ist Sünde, einem Mann beizuliegen, wenn es nicht der Ehemann ist.«
»Sünde … Sünde … Wir Frauen müssen sehen, wie wir überleben. Aber um dich zu beruhigen: Der Erzbischof hält seine Hand über dieses Haus. Meinst du, dann kann es Sünde sein?«
Nachdenklich setzte Lena sich, vermied es aber, noch einmal auf die Speisen zu schauen. Sie misstraute ihrem Magen. Wenn so ein hoher Geistlicher dieses Haus schützte, dann konnte es wirklich nichts Schlechtes sein. »Ich glaube nicht.«
»Wir tun etwas für die Stadt. Die Männer lassen ihre Weiber in Ruhe, und die, die keine haben, haben uns. Es ist ein Beruf wie viele andere auch.«
Das klang vernünftig, und Lena nickte.
»Hast du noch weitere Fragen?«
»Um ehrlich zu sein, ja, Frau Margarete.
Weitere Kostenlose Bücher