Die Huren des Apothekers
war. Zunächst hatte sie angenommen, es handele sich nur um eine Pfütze, genauso flach wie der munter sprudelnde Zufluss, doch jetzt glaubte sie eher an eine Art Brunnen, den ständig Quellwasser speiste. Auf die Oberfläche des Wassers trat eine Kreisbewegung, ein Strudel, in dessen Mitte die Kette ein Tragejoch herauszog. Zwei weitere Ketten strafften sich an den Enden des Querbalkens und zogen eine Last aus der Tiefe.
»Wir sollten endlich die Bandagen entfernen«, sagte die Apothekerin und lenkte damit Luzia für einen Augenblick ab. »Von Schwalbach machte mir das Angebot, meine Stiftung vorzustellen.«
Henslin zeigte sich beeindruckt. »Dem Fürstabt persönlich?«
Mechthild hob ihr Kinn höher und setzte eine gewichtige Miene auf. »Er wird mir, wenn ich meine Sache gut mache, Pfründe einsetzen. Das käme mir natürlich zupass. Bei der Gelegenheit könnte ich die Schmuckstücke einem dortigen Juwelier anbieten. Der in der Kugelgasse wird mir zu neugierig.«
»Und warum sagst du ihm nicht, dass wir alles aus Mumienbinden wickeln?«
»Weil ein Medaillon mit einem eingeritzten Liebesvers wohl kaum von einer antediluvianischen Mumie stammt! Ich werde ihm sagen, dass Pilgerinnen ihren Schmuck meiner Institution spenden.«
»Gute Idee.« Der Apotheker wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem schuftenden Knecht zu, genauso wie Luzia, während Mechthild sich an der Mumie zu schaffen machte. Jerg hakte die Kette in eine Vorrichtung auf der Brücke ein und trat zur Seite. So bekam Luzia die beste Aussicht darauf, was er aus dem Wasser gezogen hatte. Am liebsten wäre sie in die Bewusstlosigkeit geflüchtet, doch ihr Körper tat ihr nicht den Gefallen. Triefnass drehte sich an dem Joch die Leiche einer Frau. Sauber ausgeweidet wie ein Schwein pendelte sie an der Kette, Wasser floss aus der leeren Leibeshöhle.
»Diesmal stimmt die Zeit«, rief Jerg mit zufriedener Miene und hob den steifen Arm der Leiche, an dem die Hand fehlte. »Genau acht Stunden. Das Blut ist völlig ausgespült, aber die Haut noch nicht aufgeweicht.«
Immer langsamer werdend vollzog die Leiche ihre Kreise, bis sie hin- und herschwankend aufhörte, das Gesicht mit aufgerissenem Mund Luzia zugewendet. Rote Haare, aus denen Rinnsale Wasser herausliefen, hingen strähnig in die Stirn und bedeckten die fahlen Wangen. Die Augen fixierten starr und anklagend Luzia.
Wie gebannt erwiderte sie den Blick, wagte nicht einmal zu atmen, bis Sterne vor ihr erschienen und sie tief Luft holte. Barmherziger Gott im Himmel, was ging hier vor sich? Hatten die Mädchen nicht von einer Rothaarigen geredet, die in der Nacht davongelaufen war? Endeten so diejenigen, die Mechthild Widerworte gaben?
Nein, das durfte nicht sein. Bei allen Verbrechen, die Luzia ihr unterstellte oder sogar beweisen konnte, soweit durfte sie nicht gehen. Eine Geburt war ein lebensgefährliches Unterfangen für die Mutter. Nicht wenige starben dabei, selbst wenn die besten Ärzte sich um sie kümmerten. Um wie bedrohlicher sahen die Verhältnisse aus für eine Frau, die in höchsten Nöten allein gelassen wurde? Leicht fand man sie am nächsten Morgen entleibt wieder. Mechthilds und Henslins Verbrechen bestand darin, diese leere Hülle nicht mit der gebührenden Rücksicht und ohne die Tröstungen des Christentums zu bestatten, sondern zu Arznei zu verarbeiten.
Luzias Blick wanderte zu der leeren Leibeshöhle. Und das Kind? Was hatte Mechthild damit gemacht? Würde Jerg jetzt noch eine weitere Kette heraufholen, an der ein unschuldiges Neugeborenes hing? Oder – unwillkürlich zuckte Luzias Hand, um ein Kreuzzeichen zu machen – hatte es gar überlebt? Die Mädchen hatten beim Frühstück berichtet, Mechthild gäbe ungewollte Kinder an kinderlose Ehepaare, die sie wie ihr Eigen aufzögen. Auch nur eine fromme Lüge?
Jerg lenkte die Kette zum Ufer, wo er die Schlachterhaken in den Schultern der Leiche vom Joch entfernte, sie hinter sich herschleifte und mit ihr aus Luzias Blickfeld verschwand. Im Inneren fühlte Luzia Erleichterung darüber. Ihr war klar, was jetzt passierte. Er hängte sie genauso in einer zugigen Nische auf wie die anderen Mumien, die Luzia gesehen hatte. Der kalte Wind verursachte, dass die Leiber nicht verwesten, sondern zu Mumien zusammenschrumpften. Um dann von Henslin zu Pulver zerrieben zu werden.
Am Tisch standen jetzt Mechthild und Henslin gemeinsam und arbeiteten an dem ägyptischen Pharao. Mechthild legte die Hände frei, Henslin begann an den Füßen.
Weitere Kostenlose Bücher