Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
»Also wissen Sie nicht, ob sie noch am Leben sind?«
»Nein.«
»Wie war ihr Zustand, als Sie das letzte Mal ... geträumt haben?«
Hunt sah mich so durchdringend wie immer an. Meina Gladstone betrachtete den dunklen Schirm und hatte uns den Rücken zugedreht. »Alle Pilger waren noch am Leben«, sagte ich, »mit der möglichen Ausnahme von Het Masteen, der Wahren Stimme des Baums.«
»Er war tot?« fragte Hunt.
»Er verschwand zwei Nächte vorher im Grasmeer von dem Windwagen, nachdem die Ousters erst wenige Stunden zuvor das Baumschiff Yggdrasil vernichtet hatten. Aber kurz bevor die Pilger vom Keep Chronos herabgestiegen sind, haben sie eine Gestalt in Robe gesehen, die über den Sand zu den Gräbern unterwegs war.«
»Het Masteen?« fragte Gladstone.
Ich hob die Hand. »Sie haben es vermutet. Sicher waren sie nicht.«
»Erzählen Sie mir von den anderen«, sagte die Präsidentin.
Ich holte tief Luft. Ich wußte aus den Träumen, daß Gladstone mindestens zwei Mitglieder der letzten Pilgerfahrt zum Shrike persönlich gekannt hatte; Brawne Lamias Vater war ein befreundeter Senator gewesen, der Konsul der Hegemonie ihr persönlicher Repräsentant bei geheimen Verhandlungen mit den Ousters.
»Pater Hoyt leidet große Schmerzen«, sagte ich. »Er hat die Geschichte der Kruziform erzählt. Der Konsul hat herausgefunden, daß Hoyt ebenfalls eine trägt ... eigentlich zwei, die von Pater Duré und seine eigene.«
Gladstone nickte. »Er trägt demnach den Auferstehungsparasiten noch an sich?«
»Ja.«
»Bereitet er ihm mehr Schmerzen, während er sich dem Gehege des Shrike nähert?«
»Ich glaube ja«, sagte ich.
»Weiter.«
»Silenus, der Dichter, ist fast ständig betrunken. Er ist überzeugt, daß sein unvollendetes Gedicht den Lauf der Ereignisse vorhersagte und ihn bestimmt.«
»Auf Hyperion?« fragte Gladstone, die uns immer noch den Rücken zukehrte.
»Überall«, sagte ich.
Hunt sah zur obersten Regierungsbeamtin und dann wieder zu mir. »Ist Silenus verrückt?«
Ich erwiderte seinen Blick, sagte aber nichts. Um die Wahrheit zu sagen, ich wußte es nicht.
»Weiter«, sagte Gladstone wieder.
»Oberst Kassad ist nach wie vor davon besessen, die Frau namens Moneta zu finden und das Shrike zu töten. Er ist sich bewußt, daß sie ein und dasselbe sein könnten.«
»Ist er bewaffnet?« Gladstones Stimme klang sanft.
»Ja.«
»Weiter.«
»Sol Weintraub, der Gelehrte von Barnards Welt, möchte das Grab namens Sphinx betreten, sobald ...«
»Entschuldigung«, sagte Gladstone, »aber ist seine Tochter noch bei ihm?«
»Ja.«
»Und wie alt ist Rachel jetzt?«
»Fünf Tage, glaube ich.« Ich schloß die Augen, damit ich mich in allen Einzelheiten an den Traum der vergangenen Nacht erinnern konnte. »Ja«, sagte ich, »fünf Tage.«
»Und lebt noch immer rückwärts in der Zeit?«
»Ja.«
»Weiter, M. Severn. Bitte erzählen Sie mir von Brawne Lamia und dem Konsul.«
»M. Lamia erfüllt die Wünsche ihres einstigen Klienten ... und Liebhabers«, sagte ich. »Die Keats-Persönlichkeit fand es erforderlich, das Shrike zu konfrontieren. Das tut M. Lamia nun an seiner Stelle.«
»M. Severn«, begann Leigh Hunt, »Sie sprechen von der ›Keats-Persönlichkeit‹, als hätte sie keine Relevanz oder Beziehung zu Ihrer eigenen ...«
»Später, bitte, Leigh«, sagte Meina Gladstone. Sie drehte sich um und sah mich an. »Ich bin neugierig, was den Konsul betrifft. Hat er seine Gründe dargelegt, warum er an der Pilgerfahrt teilgenommen hat?«
»Ja«, sagte ich.
Gladstone und Hunt warteten.
»Der Konsul hat ihnen von seiner Großmutter erzählt«, sagte ich. »Der Frau namens Siri, die vor mehr als einem halben Jahrhundert den Aufstand auf Maui-Covenant angezettelt hat. Er erzählte ihnen vom Tod seiner Familie auf Bressia und enthüllte sein geheimes Treffen mit den Ousters.«
»Ist das alles?« fragte Gladstone. Ihre braunen Augen waren stechend.
»Nein«, sagte ich. »Der Konsul hat ihnen auch erzählt, daß er derjenige gewesen ist, der einen Mechanismus der Ousters auslöste, der das Offnen der Zeitgräber beschleunigte.«
Hunt fuhr kerzengerade in die Höhe, sein Bein fiel von der Sessellehne herab. Gladstone holte deutlich hörbar Luft. »Ist das alles?«
»Ja.«
»Wie haben die anderen auf dieses Eingeständnis von ... Verrat reagiert?« fragte sie.
Ich machte eine Pause und versuchte, die Traumbilder in eine linearere Abfolge zu bringen, als die Erinnerung sie präsentierte.
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