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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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stammelte sie. Sie schüttelte den Kopf auf bekannte Weise und schaffte es, gleichzeitig zu lachen und zu weinen. »Du siehst anders aus, Daddy, das ist alles. Ich erinnere mich an den Aufbruch von hier … buchstäblich … als wäre es gestern gewesen. Als ich dich gesehen habe … dein Haar …« Rachel legte eine Hand vor den Mund.
    Sol strich sich über die Kopfhaut. »Ah, ja«, sagte er, und plötzlich war ihm selbst nach Lachen und Weinen zumute. »Mit deiner Schule und den Reisen ist es über elf Jahre her. Ich bin alt. Und kahl.« Er breitete wieder die Arme aus. »Willkommen daheim, Kleines.«
    Rachel trat in den schützenden Kreis seiner Arme.
     
    Einige Monate ging alles gut. Rachel fühlte sich in der vertrauten Umgebung sicherer, und für Sarai war der Schmerz der Krankheit ihrer Tochter eine Zeitlang geringer, weil er von der Freude verdrängt wurde, sie bei sich zu haben.
    Rachel stand jeden Morgen früh auf und studierte ihre private »Orientierungssendung«, die, wie Sol wusste, Bilder von ihm und Sarai – ein Dutzend Jahre älter, als sie sich erinnerte  – enthielt. Er versuchte sich vorzustellen, wie es für Rachel war: Sie erwachte mit taufrischen Erinnerungen in ihrem Bett, war zweiundzwanzig Jahre alt und verbrachte die Ferien zu Hause, bevor sie die Universität auf einer anderen Welt besuchte – und musste feststellen, dass ihre Eltern plötzlich gealtert waren, hundert kleine Veränderungen im Haus und in der Stadt stattgefunden hatten, die Nachrichten anders waren und Jahre der Geschichte an ihr vorübergegangen waren.
    Sol konnte es sich nicht vorstellen.

     
    Ihr erster Fehler war, dass sie Rachels Wünschen nachgaben und ihre alten Freunde zu ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag einluden: dieselben Leute, die beim ersten Mal gefeiert hatten – die unverwüstliche Niki, Don Stewart und sein Freund Howard, Kathi Obeg und Marta Tyn, ihre beste Freundin Linna McKyler –, alle hatten damals gerade das College absolviert gehabt und streiften die Kokons der Kindheit ab, um ein neues Leben anzufangen.
    Rachel hatte sie alle seit ihrer Rückkehr gesehen. Aber sie hatte geschlafen – und vergessen. Und Sol und Sarai dachten dieses eine Mal nicht daran, dass sie es vergessen hatte.
    Niki war vierunddreißig Standardjahre alt und hatte selbst zwei Kinder – sie war immer noch quirlig, immer noch unverwüstlich, aber nach Rachels Maßstäben steinalt. Don und Howard sprachen von ihren Investitionen, den sportlichen Leistungen ihrer Kinder und den bevorstehenden Ferien. Kathi war verwirrt, sie redete nur zweimal mit Rachel, als wäre diese ein Eindringling. Marta war unverhohlen eifersüchtig auf Rachels Jugend. Linna, die in den vergangenen Jahren strenggläubige Zen-Gnostikerin geworden war, weinte und ging früh nach Hause.
    Als sie fort waren, saß Rachel in den Trümmern des Wohnzimmers nach der Party und starrte die halb gegessene Torte an. Sie weinte nicht. Bevor sie nach oben ging, umarmte sie ihre Mutter und flüsterte ihrem Vater zu: »Dad, bitte lass nicht zu, dass ich so etwas wieder mache.«
    Dann ging sie nach oben und schlief.
     
    Im Frühling hatte Sol wieder den Traum. Er hatte sich an einen großen, dunklen Ort verirrt, der lediglich von zwei roten Ovalen erhellt wurde. Es war nicht absurd, als die tonlose Stimme sagte:
    »Sol! Nimm deine Tochter, deine einzige Tochter Rachel, die du liebst, und geh zu der Welt genannt Hyperion und bringe sie an dem Ort, den ich dir zeigen werde, als Brandopfer dar!«
    Und Sol schrie in die Dunkelheit zurück: »Du hast sie doch schon, du Hurensohn! Was muss ich tun, damit ich sie zurückbekomme? Sag es mir! Sag es mir, verdammt!«
    Sol Weintraub erwachte schweißgebadet, mit Tränen in den Augen und Wut im Herzen. Er konnte spüren, wie seine Tochter in einem anderen Zimmer schlief, während der große Wurm sie verschlang.
     
    In den darauffolgenden Monaten sammelte Sol wie besessen Informationen über Hyperion, die Zeitgräber und das Shrike. Als Forscher war er verblüfft, dass es so wenig zuverlässige Daten über so ein provokatives Thema gab. Es gab selbstverständlich die Kirche des Shrike – auf Barnards Welt standen keine Tempel, aber auf vielen Welten im Netz –, doch er musste bald feststellen, verlässliche Tatsachen in der Literatur über den Shrike-Kult zu finden war, als wollte man die Geografie von Sarnath kartografieren, indem man ein buddhistisches Kloster besuchte. Die Zeit wurde im Dogma der Kirche des

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