Die Hyperion-Gesänge
die Arme fester um die Knie. »Auf eine unheimliche Weise ist es richtig komisch, was?«
»Nein«, sagte Sol leise.
»Nein, sicher nicht«, sagte Rachel. Ihre Augen, groß und dunkel, waren feucht. »Für dich und Mom muss es der schrecklichste Alptraum der Welt sein. Jeden Tag müsst ihr mitansehen,
wie ich die Treppe herunterkomme … verwirrt … Ich wache mit den Erinnerungen an gestern auf, höre aber meine eigene Stimme, die mir sagt, dass gestern Jahre zurückliegt. Dass ich eine Affäre mit einem Mann namens Amelio hatte …«
»Melio«, flüsterte Sol.
»Wie auch immer. Es hilft nichts, Dad. Bis ich alles verarbeitet habe, bin ich so erschöpft, dass ich schlafen muss … Und dann … Nun, du weißt ja selbst, was dann passiert.«
»Was …«, begann Sol, dann musste er sich räuspern. »Was sollen wir tun, Kleines?«
Rachel sah ihm in die Augen und lächelte. Es war dasselbe Lächeln, mit dem sie ihn seit der fünften Woche nach ihrer Geburt glücklich machte. »Sag es mir nicht, Dad«, sagte sie fest. »Lass nicht zu, dass ich es mir erzähle. Es tut mir weh. Ich meine, ich habe das alles nicht erlebt …« Sie machte eine Pause und griff sich an die Stirn. »Du weißt, was ich meine, Dad. Die Rachel, die einen anderen Planeten besuchte, sich verliebte und verletzt wurde – das war eine andere Rachel ! Ich sollte ihre Qualen nicht erdulden müssen.« Jetzt weinte sie. »Verstehst du das? Verstehst du?«
»Ja«, sagte Sol. Er breitete die Arme aus und spürte warme Tränen an der Brust. »Ja, das verstehe ich.«
Im Verlauf des nächsten Jahres trafen gelegentlich Fatlinebotschaften von Hyperion ein, aber sie waren alle negativ. Natur und Quelle der Anti-Entropiefelder waren nicht entdeckt worden. Keine ungewöhnlichen Aktivitäten der Zeitgezeiten waren um die Sphinx herum festgestellt worden. Experimente mit Labortieren in den und um die Gezeiten der Zeit herum hatten zum plötzlichen Tod einiger Tiere geführt, aber Merlins Krankheit war nicht wieder aufgetreten. Melio beendete jede Übertragung mit: »Alles Liebe für Rachel.«
Sol und Sarai verwendeten Geld, das sie von der Universität geliehen hatten, für begrenzte Poulsen-Behandlungen in Bussard City. Sie waren schon so alt, dass der Prozess ihr Leben nicht mehr um ein Jahrhundert verlängern konnte, aber sie sahen wieder aus wie ein Paar, das auf fünfzig Standardjahre zuging statt auf siebzig. Sie studierten alte Familienfotos und stellten fest, dass es gar nicht so schwierig war, sich so anzuziehen wie vor anderthalb Jahrzehnten.
Die sechzehnjährige Rachel kam die Treppe heruntergehüpft und hatte das Komlog auf den Collegekanal eingestellt. »Kann ich Reiserispies haben?«
»Bekommst du die nicht jeden Morgen?«, fragte Sarai.
»Ja«, sagte Rachel lächelnd. »Ich habe nur gedacht, sie könnten vielleicht ausgegangen sein. Ich habe das Telefon gehört. War das Niki?«
»Nein«, sagte Sol.
»Verdammt«, sagte Rachel und sah sie an. »Entschuldigung. Aber sie hat versprochen , sie würde anrufen, sobald die Zensuren reinkommen. Die Prüfungen sind eine Woche her. Man sollte meinen, dass ich bis jetzt etwas gehört haben müsste.«
»Keine Bange«, sagte Sarai. Sie brachte die Kaffeekanne zum Tisch. »Ich verspreche dir, deine Noten werden so gut sein, dass dich jede Schule nimmt, die du willst.«
»Mom«, seufzte Rachel, »das weißt du doch nicht. Da draußen heißt es fressen oder gefressen werden.« Sie runzelte die Stirn. »Hast du mein Mathebuch gesehen? Mein Zimmer ist völlig durcheinander. Ich konnte überhaupt nichts finden.«
Sol räusperte sich. »Heute ist kein Unterricht, Kleines.«
Rachel sah ihn an. »Kein Unterricht? Dienstags? Sechs Wochen vor der Abschlussprüfung? Was ist los?«
»Du warst krank«, sagte Sarai fest. »Du kannst einen Tag daheim bleiben. Nur heute.«
Rachel runzelte die Stirn. »Krank? Ich fühle mich nicht
krank. Nur irgendwie unheimlich. Als wäre alles … alles irgendwie nicht richtig. Zum Beispiel, warum ist das Sofa im Medienzimmer verschoben? Und wo ist Chips? Ich habe dauernd gerufen, aber er ist nicht gekommen.«
Sol nahm seine Tochter am Handgelenk. »Du bist schon eine Weile krank«, sagte er. »Der Arzt hat gesagt, du könntest mit ein paar Gedächtnislücken aufwachen. Reden wir, während wir zum Campus gehen. Hast du Lust?«
Rachel strahlte. »Den Unterricht ausfallen zu lassen und zum College zu gehen? Klar doch!« Sie heuchelte Konsterniertheit. »Solange
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