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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Gazzaniga
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andere Perspektive auf dieses Dilemma anzubieten. Meiner Ansicht nach wirken alle unsere Lebenserfahrungen, persönliche wie gesellschaftliche, auf unser emergentes mentales System ein. Diese Erfahrungen sind stark und wirkmächtig und sie formen unseren Geist. Sie steuern unser Gehirn nicht nur, sondern enthüllen auch, dass es die Wechselwirkung verschiedener Ebenen von Gehirn und Geist ist, die unser Bewusstsein schafft, und damit unser gegenwärtiges Erleben. Es ist die Aufgabe der modernen Neurowissenschaften, das Gehirn zu entmystifizieren. Dazu müssen wir uns zunächst darüber klar werden, wie die Regeln und Algorithmen, denen die getrennten und verteilten Module unterliegen, zusammenwirken, um letztlich die Bedingungen unseres Menschseins hervorzubringen.
    Es ist ermutigend und aufschlussreich, wenn man versteht, dass das Gehirn automatisch funktioniert und den Naturgesetzen unterliegt. Ermutigend, weil wir uns darauf verlassen können, dass unser Entscheidungsorgan, das Gehirn, eine zuverlässige Struktur hat, die für die Umsetzung der Entscheidungen sorgt. Aufschlussreich und entlarvend, weil daraus folgt, dass die Frage des freien Willens auf einer missverständlichen Vorstellung beruht, die von sozialen und psychologischen Annahmen herrührt. Diese missverständliche Vorstellung hat zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gegolten. Jedoch hat sie sich nicht bewährt und steht daher heute im Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft über das Wesen des Universums. John Doyle hat es mir gegenüber so formuliert:
    Irgendwie haben wir uns daran gewöhnt, dass es in einem System, das kohärentes und integriertes Verhalten zeigt, eine »essenzielle« und vor allem zentrale oder zentralisierte Kontrollinstanz geben müsse, die verantwortlich ist. Wir sind zutiefst essenzialistisch, und unsere linke Hirnhälfte will diese Instanz finden. Und wie Sie richtig sagen: Wenn wir nichts finden, erfinden wir etwas. Wir nennen es einen Homonculus, den Geist, die Seele, die Gene und so weiter. … Aber im üblichen reduktionistischen Sinn ist es kaum vorhanden. … Das heißt nicht, dass es keine verantwortliche »Essenz« gebe, sie ist nur verteilt. Sie liegt in den Abläufen, den Regeln, den Algorithmen, der Software. So funktionieren Zellen, Ameisenhügel, Computernetzwerke, Armeen und Gehirne wirklich. Es ist für uns schwer zu verstehen, dass die Essenz nicht irgendwo in einem Kästchen zu finden ist, aber das wäre sogar ein Konstruktionsfehler, denn wenn das Kästchen kaputtginge, fiele das ganze System aus. Es ist also sehr wichtig, dass die Essenz nicht in den Modulen, sondern in den Regeln liegt, nach denen sie funktionieren.
    Ich habe festgestellt, dass sich auch meine eigene Perspektive verändert hat. Das hat ein Leben als Naturwissenschaftler so an sich. Die Fakten ändern sich nicht. Was sich aber ändert, besonders in stark interpretativ geprägten Naturwissenschaften wie der Neurowissenschaft und der Psychologie, sind die Vorstellungen, wie wir die sich ständig vermehrenden Erkenntnisse über Mutter Natur einordnen sollen. Jeder Forscher stellt sich tagtäglich immer wieder dieselbe Frage: Erfasse ich mit meiner Theorie, warum dies und jenes so ist, wie es wirklich funktioniert? Niemand weiß mehr über die Schwächen einer Theorie als ihr Urheber, und deswegen ist man immer auf der Hut. Das ist wahrlich kein sehr angenehmer Zustand, und einmal fragte ich Leon Festinger, einen der klügsten Menschen überhaupt, ob er sich je unfähig fühle. Er erwiderte: »Natürlich! Das macht einen ja erst fähig.«
    Als ich das Material für dieses Buch durchgegangen bin, wurde mir klar, dass es im Grunde einer eigenen Sprache bedarf, die noch entwickelt werden müsste, um zu beschreiben, was eigentlich geschieht, wenn geistige Prozesse das Gehirn steuern und umgekehrt. Die Hirnaktivität findet am Übergang zwischen diesen beiden Ebenen statt. Man könnte es so formulieren, dass hier absteigende Kausalität auf aufsteigende Kausalität trifft. Oder man könnte sagen, dass Hirnaktivität nicht »dort« oder überhaupt irgendwo im Gehirn stattfindet, sondern im Raum zwischen miteinander wechselwirkenden Gehirnen. Die Antwort auf unsere Frage nach dem Verhältnis zwischen Gehirn und Geist liegt in den Schnittstellen der unterschiedlichen, hierarchisch organisierten Ebenen unserer Existenz. Wie sollen wir das beschreiben? Das emergente Bewusstsein hat seinen eigenen Zeitstrahl, seine

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