Die Ich-Illusion
EINLEITUNG
Wir alle spüren ein unstillbares Verlangen, mehr über uns als Menschen zu erfahren. Manchmal droht uns dieses Interesse zu überwältigen, weil wir bereits ziemlich viel über die physikalische Welt wissen. Und auch wenn wir uns mitunter schwertun, so akzeptieren doch die meisten von uns die Schlussfolgerungen aus einem rein wissenschaftlichen Blickwinkel auf die Situation, in der wir uns befinden. Doch ein unleugbares Faktum bleibt: Wir sind als Individuen für unsere Handlungen selbst verantwortlich, obwohl wir in einem kausal vorbestimmten Universum leben.
Wir Menschen sind große Tiere, so intelligent wir auch sein mögen, und wir missbrauchen unsere Geistesgaben nur zu oft. Und trotzdem fragen wir uns, ob das alles ist. Sind wir wirklich im Grunde nur ein etwas schlaueres Tier, das wie alle anderen nach Futter sucht? Sicher, wir sind um vieles komplexer als eine Biene. Obwohl auch wir unsere instinktiven Reaktionen haben, verfügen wir als Menschen doch über bewusste Wahrnehmungen und Ansichten aller Art. Unser Glaube überwindet im Zweifel alle biologischen Verhaltensweisen und automatischen Vorgänge, die sich im Laufe unserer Evolution herausgebildet haben. Sein Glaube – auch wenn es ein falscher war – trieb Othello zum Mord an seiner geliebten Frau und ließ Charles Dickens’ Sidney Carton, als er anstelle eines Freundes zur Guillotine ging, ausrufen, dies sei das Beste, was er je getan habe. Obwohl man sich schon ziemlich unbedeutend vorkommen kann, wenn man zu den Milliarden Sternen und Universen emporblickt, die uns umgeben, ist und bleibt der Mensch das Maß aller Dinge. Immer noch bewegt uns die Frage, ob wir nicht zu einem größeren Ganzen gehören. Sowohl die allgemein geteilte und mühsam errungene Weisheit der Naturwissenschaft als auch ein großer Teil der Philosophie sagt uns, dass das Leben keinen weiteren Sinn hat als denjenigen, den wir ihm geben. Wir begreifen uns als Autoren unseres Lebens, auch wenn der Zweifel bleibt, ob das wirklich alles ist.
Nun bezweifeln Naturwissenschaft und Philosophie jedoch, ob es wirklich an uns liegt, welchen Sinn wir dem Leben geben. Hier einige Einsichten in den Stand unserer modernen Kenntnis der Welt, ihrer Tatsachen und ihrer unangenehmen Folgerungen: Das Gehirn ermöglicht mit seinen physikalisch-chemischen Prozessen auf eine uns unbekannte Weise den menschlichen Geist. Dabei unterliegt es – wie alle Materie – den Naturgesetzen. Wenn man es recht bedenkt, ist es auch nur gut so. Wir würden beispielsweise nicht wollen, dass Bewegungsbefehle, wie etwa eine Hand an den Mund zu führen, in zufällige Handlungen umgesetzt werden – wir möchten uns die Eiscreme ja in den Mund schieben und nicht an die Stirn kleben. Es gibt allerdings Stimmen, die behaupten, aus der Tatsache, dass unser Gehirn den Naturgesetzen unterliegt, folge, dass wir alle im Wesentlichen Zombies ohne eigenen Willen seien. Die Wissenschaft geht davon aus, dass wir erst dann Wissen darüber erlangen, wer und was wir sind, nachdem das Nervensystem bereits gehandelt hat. Allerdings sind die meisten von uns so mit ihrem Alltagsleben beschäftigt, dass sie sich nicht die Zeit nehmen, über diese Behauptungen nachzudenken oder sich von ihnen beunruhigen zu lassen. Und nur sehr wenige verfallen darüber in existenzielle Zweifel. Wir wollen unsere Arbeit erledigen, nach Hause zu Frau oder Mann und Kind fahren, pokern, tratschen, einen Whiskey nehmen, fröhlich sein und einfach leben. Den Großteil unserer Zeit über ignorieren wir die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wir wollen das Leben leben, nicht darüber grübeln.
Dennoch ist es die vorherrschende Meinung in der Wissenschaft, dass wir in einem vollständig kausal verursachten Universum leben. Diese Annahme scheint logisch aus all dem zu folgen, was wir bis jetzt über das Wesen des Universums herausgefunden haben. Die Geschehnisse in der Welt der Tatsachen werden von Naturgesetzen bestimmt. Wir sind Teil der physischen Welt, und daher beherrschen die Naturgesetze unser Verhalten und sogar unser Bewusstsein. Dieser Determinismus gilt sowohl physikalisch als auch in Gesellschaft mit anderen, und demgemäß sollten wir ihn akzeptieren. Einstein und Spinoza etwa haben ihn akzeptiert. Wer also sind wir, ihn in Frage zu stellen? Ausgangsannahmen haben Folgen, und so wird uns zunehmend nahegelegt, mit Schuldzuweisungen an andere Menschen vorsichtig zu sein. Es heißt, wir lebten in einer determinierten Welt und da
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