Die innere Freiheit des Alterns
Trennung – für den Verlassenen zunächst kaum zu verkraften und auch kaum zu verstehen – oder durch den Tod, der im Moment einer seelischen Katastrophe gleichkommt, auch noch durch die unzählbar langen Monate der ersten Trauer hindurch, bis schließlich auch hier sich der Seelenraum unermesslich öffnet und den verstorbenen Partner, die verstorbene Partnerin unverlierbar aufnimmt. In gewisser Weise gehen die geliebten Menschen beim Sterben in uns selber, die ein Herz für sie haben und hatten, hinein; gehen in uns ein.
Als Abschiedsprozess verstanden, verläuft das Alter in annähernd ähnlichen Phasen wie der Trauerprozess 8 , nur meist nicht mit so jähen und wilden Emotionen, sondern verhaltener, da er sich über viele Jahre erstreckt. Aber auch er beginnt mit einer Phase des »Nicht-wahrhaben-Wollens«. Obgleich Zeichen des Alters eingetreten sind – Verlangsamung der körperlichen Reaktionen, raschere Ermüdbarkeit –, werden sie häufig zunächst verleugnet, auch vor sich selbst. Man macht weiter, als sei nichts geschehen, obgleich man zum Beispiel bei der Wanderung größte Mühe hatte, mit den Jüngeren mitzuhalten, und es schwerfiel, über Mittag ohne Pause durchzuhalten. Viele wollen so wenig alt sein, so wenig davon hören, dass sie, wie schon erwähnt, bei einer Umfrage, was sie von Lebenserfahrung und Weisheit hielten, völlig abblockten und sagten: Gar nichts. Dieser Phase des »Nicht-wahrhaben-Wollens« folgt im Altersprozess wie im Trauerprozess auch die nächste Phase, die der »aufbrechenden Emotionen«, in der alles noch einmal aufflammt und belebt wird, was durch den »Sterbevorgang« der längst vergangenen Jugend und der schon überschrittenen Mittagshöhe des Lebens im Alter verloren zu gehen droht: So kann zum Beispiel echte Wut aufkommen, wegen der Zumutung, dass sich die Fülle des Lebens zu entziehen scheint, zusammen mit der vitalen Frische, der unbegrenzten Regenerationsfähigkeit, der Schönheit des Körpers, der sexuellen Attraktivität, der geistigen Flexibilität – und darüber hinaus, ungleich schlimmer, dass uns geliebte Menschen genommen werden können, einer nach dem anderen, durch Krankheit und durch Tod.
Zugleich aber bricht in dieser Phase eine Flut von Erinnerungen auf, auch an die Freude und Begeisterung, die das durchlebte Leben unverlierbar mit sich brachte: Erinnerungen an ersehnte und erfüllte Liebe, an Pläne und Projekte, die sich verwirklichen ließen, an alles das, was wir hineingestellt haben in dieses Leben.
Indem es in Trauer und Freude noch einmal durch uns hindurchbrausen darf, filtert sich das Wesentliche dieser Erfahrungenheraus. Zum Beispiel das Wissen: Ich bin und bleibe ein geliebter Mensch; wenn da ein Mensch in meinem Leben war, der mich liebte, bleibt dies auch, wenn er mir genommen ist; es bleibt mir alles zu eigen, was er aus mir herausgeliebt hat.
Auf diese Phase der Ausfilterung durch das Wiedererleben starker Emotionen folgt eine nüchternere Phase der Unterscheidung des Jetzt vom Damals, eine Phase des Trennens und Wiederfindens. Erst hier wird erkannt: Nur wenn wir das Vergangene als Vergangenes wahrnehmen und als solches wahr sein lassen können, uns gleichsam vom Jetzt her zu unterscheiden und abzugrenzen vermögen, kann es in neuer Qualität, in seiner seelischen Essenz, wiedergeschenkt werden, im Jetzt. Vergangenheit und Gegenwart dürfen nicht auf Dauer vermischt bleiben, sonst entsteht die Gefahr, sich ans Vergangene zu verlieren, eine nicht geringe Gefahr im Alter: sei es nun eine Verhaftung an die glücklichen oder auch an die unglücklichen Phasen der Vergangenheit. Beides ist gleichermaßen unfruchtbar. Nur bei dem Sich-Trennen von Vergangenem im Sinne eines Sich-Unterscheidens von ihm kann das Jetzt frei werden für einen erneuten Selbst- und Weltbezug, auf den es gerade auch im Alter immer wieder ankommt.
Zum Sich-Trennen vom Vergangenen gehört früher oder später auch die Trennung von einer beruflichen Einbindung. Bei aller Belastung war sie doch immer wieder auch erfüllend, mit Erfolgserlebnissen und sozialen Kontakten verbunden. Die Schockwirkung, die mit der Entlassung, Berentung oder Pensionierung einhergeht, kann durch eine bewusste Trauerarbeit bewältigt werden, die das Unvermeidliche wahr sein lässt, wenn wir uns vom bisherigen beruflichen Feld abzulösen beginnen, damit wir nicht denen, die unser bisheriges Arbeitsfeld übernehmen, im Wege stehen und womöglich hineinreden. Doch wird uns dies innerlich nur
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