Die innere Freiheit des Alterns
Alter auf einmal nicht mehr so gut funktioniert. Es sei übrigens, wie Helmut Radebold 29 betont, immer darauf zu achten, welchem Jahrgang die entsprechenden Menschen angehören. Es ist ein Unterschied, ob die heute Alten vor dem Krieg, in den prägenden Jahren der frühen Kindheit, noch eine Zeit relativ stabiler Umstände mitbekommen haben, oder ob sie zur Zeit des Bombenkriegs oder der Vertreibung geboren sind. Nach meiner Beobachtung kennen so manche, die den Jahrgängen 1943 bis 1945 angehören, die im Krieg Babys und Kleinkinder waren, als die sie die entsprechenden Ereignisse nicht bewusst verarbeiten konnten, auch Einbrüche aus dem Unbewussten, wie zum Beispiel Gewitterangst oder gar schwer spezifizierbare Herzneurosen als Folgen unbewusster Ängste.
Ein beruflich erfolgreicher Mann, so erzählt Bode, bekommt mit Mitte vierzig plötzlich die Diagnose einer funktionellen Herzneurose, die mit schweren Ängsten und Panikattacken verbunden ist. Erst eine Psychotherapie kann ihm Klarheit verschaffen, indem sie die frühen Ängste therapeutisch angeht, die bisher nie ernst genommen wurden, die sich aber im Nachhinein als Folge der ersten Lebensmonate und Jahre unter dem Bombenhagel auf seine Heimatstadt erwiesen. Auch seine Mutter hatte während Schwangerschaft und Geburt dieses Sohnes mit schweren Ängsten gerungen, eine Zeit, die für sie genau in den Beginn der Luftangriffe gefallen war. 30
Eine Analysandin erzählt mir, dass sie bei der Flucht aus Schlesien ihre Puppe zurücklassen musste – eine sehr schmerzhafte Erfahrung, die noch dazu mit Schuldgefühlen verbunden war. Auch sie hat ein Leben lang mit einer besonders schweren Trennungsangst zu kämpfen, die immer dann aufkommt, wenn in ihrem Leben eine Trennung unvermeidlich wird.
Etwas Bedeutsames scheint auch die Einstellung zu sein, dass man einen anderen nicht im Stich lassen darf. Für die Angehörigen dieser Jahrgänge ist es häufig eine tiefe Überzeugung, es dürfe einfach nicht sein, dass eine Beziehung zerbricht. Doch kann es geschehen, dass sich im Alter solche Einstellungen lockern; gerade wenn bewusst wird, dass sie aus solchen Kindheitserinnerungen herrühren, aus Zeiten, in denen man einander in der Tat unter keinen Umständen im Stich lassen durfte. Es gibt Berichte über Familien, die gemeinsam in der Gefahr verblieben, nur weil sie auf keinen Fall den einen oder anderen von ihnen aus der Stadt wegziehen oder gar ins Ausland emigrieren lassen wollten. Es kann aber zur Bewältigung dieser frühen Traumata gehören, dass man doch einmal im Leben noch eine Trennung wagt. So geschah es jenem Mann mit der kriegsbedingten Herzneurose, dass er sich Anfang sechzig zum ersten Mal im Leben heftig verliebte – hatte er, wie so mancher Traumatisierte, doch auch sein ganzes tieferes Gefühlsleben wie »auf Eis« gelegt. Nach einigen Jahren jedoch stellte die neue Gefühlsbeziehung seine etwas unterkühlte Ehe ernsthaft infrage. Es kam zur Scheidung. Diese sei zwar schon längst fällig gewesen, sagte der Betreffende, aber früher habe er sich nicht dazu entscheiden können. Man könne doch den anderen nicht im Stich lassen, so seine Haltung, auch dann nicht, wenn es sich bei dieser Ehe um eine reine Vernunft- und Versorgungsehe handele, ohne wirkliche Gemeinschaft, ohne Tiefe, eine Ehe, die man auch aus der Angst jener Jahre heraus geschlossen habe, um keinesfalls allein zu bleiben. 31
Obgleich Altersforscher wie Helmut Radebold das Thema in verdienstvoller Weise schon länger aufgebracht hatten, war es doch erst im Zusammenhang mit dem 50. Gedenkjahr an das Ende des Zweiten Weltkriegs von 1945 möglich, das Thema »Kriegskinder« zu einem öffentlichen Thema zu machen. Der Bosnienkrieg, in dem man in den Medien viele bosnische Kinder in ihrem Leid sah, weckte in vielen meiner Generation die Erinnerung an die eigene Kriegskindheit, weckte Betroffenheit auch bei jüngeren Jahrgängen wie denjenigen, denen dieJournalistin Sabine Bode angehört, die das Thema öffentlich aufbrachte und in ihrem Buch Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen 32 (schon 2004 erschienen) bewusst machte. Es war ihr einerseits wichtig, die Deutschen nicht auch noch als Opfer des Krieges zu stilisieren, doch konnte man andererseits das Thema Kindheit nicht aufgreifen, solange man es unter den öffentlichen Schuldgefühlen über die NS-Vergangenheit verschüttet hielt und es wie ein Tabu verschwieg. Die eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund
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