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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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der deutschen Geschichte anzuschauen, war damals eine Sache, die nur wenigen möglich war. Viele vermochten das Erfahrene jahrzehntelang unter Sätzen wie: »Andere haben es schlimmer gehabt«, oder: »Das war für uns damals normal« vor sich selbst zu verharmlosen und wegzudrängen.
    Es scheint auch so, als ob ein besonderer Habitus der Tapferkeit vielen von uns Kriegskindern eigen wäre, natürlich auch anerzogen wurde. Man weinte nicht oder selten. So erzählte mir eine damals Neunjährige, sie habe mit ihrer Mutter gestritten, von wem die Träne herrühre, die ihr plötzlich, beim Abschied ins Kinderheim, herunterrollte, von ihr selbst oder von der Mutter. Sie wollte sie nicht geweint haben! Man nahm sich zusammen, schaute zuerst, wie es den Schwächeren ging. Man suchte es mit ein bisschen Humor zu nehmen, schlimmstenfalls mit Zynismus. All diese Abwehrmechanismen können jedoch im Alter brüchiger, schwächer werden – und der eigentliche Schmerz kann in ungedämpften Erinnerungen hervorbrechen. Vor allem bei denen, deren Eltern auch traumatisiert waren – zum Beispiel durch das Erlebnis von Flucht und Vertreibung oder weil sie unter Umständen zu den verfolgten Gruppen gehörten –, war der Krieg und die NS-Zeit eine besonders schmerzhafte Komponente ihrer Biographie.
    Für mich befreiend war eine Begegnung mit zahlreichen Gleichaltrigen aus unterschiedlichen Ländern während eines Kongresses in Paris. Am Abend saßen wir in einer französischen Wohnung zusammen und kamen in ein tiefes Gesprächüber diese Zusammenhänge. Wir alle waren Kriegskinder gewesen, sei es als Kinder in Dänemark, Italien, Russland, England oder in Deutschland. Alle hatten wir gemeinsame Schmerz- und Schockerlebnisse erlitten, die uns auf einmal, in der Runde reihum erzählt, stärker miteinander verbanden, als wir je vermutet hätten.
    Zu den Lebenserinnerungen der Kriegskindergeneration, zu denen etwa die Jahrgänge von 1930–1945 gehören, zählt natürlich auch die Erfahrung des Wiederaufbaus, der langsam wiedererstehenden Städte mit neuen Häuserzeilen, auch einigen architektonisch schönen Gebäuden darunter wie zum Beispiel Kirchen, zählt schließlich auch die Erfahrung des politischen Aufbaus eines vereinten Europas. Das verdiene eigentlich stehende Ovationen, meinte voll Respekt ein Schweizer, der ja nicht zur EU gehört, angesichts dessen, dass wir EU-Zugehörige immer wieder an dem herummäkeln, was noch nicht vollkommen ist an der Gemeinschaft. Dass die Grenzen nach Frankreich hin praktisch verschwunden sind, erregt noch immer meine Verwunderung, da es doch in meiner Kindheit, wie die Gleichaltrigen wissen, noch hieß, Frankreich sei unser »Erbfeind«. Aber an den wirklich nicht mehr vorhandenen Grenzen innerhalb Deutschlands freue ich mich am meisten, wenn ich zum Beispiel aus meiner Heimat Franken nach Thüringen fahre, das so lange durch die Mauer abgetrennt war, nun über die neue elegante Autobahn mit ihren Tunnels durch den Thüringer Wald. Unsere Generation, nicht mehr durch aktive Beteiligung und persönliche Schuldgefühle gehemmt, hat im wesentlichen die Aufarbeitung der NS-Verbrechen auf den Weg gebracht und vertieft, indem sie sie in die Schulen, in die Medien und in die Forschung hineintrug, sodass eine offizielle Gedenkkultur entstand, die in den Augen der Welt das Ansehen Deutschlands wieder verbesserte.
    Es ist wichtig, was wir der nächsten und übernächsten Generation weitergeben. Als ich in eine Schweizer Familie kam, fragten mich die Dreizehn-, Vierzehnjährigen damals gleich, ob ich als Kind noch den Krieg miterlebt hätte. Sie wolltenvieles darüber hören. Nicht anders geht es auch unserer jungen Generation in Deutschland, zumal man als alter Mensch gerne erzählt – bleiben wir es ihnen nicht schuldig.
    Auch die Traumaforscherin Luise Reddemann bestätigt, dass nicht nur Menschen der Kriegsgeneration selbst, seien sie damals Erwachsene oder Kinder gewesen, unter den Folgen eines frühen, im Krieg erlittenen Traumas leiden, sondern dass es auch Verschiebungen traumatisierter Erfahrungen in die zweite Generation hinein gibt. Deshalb sollte ein Therapeut, auch wenn er mit den Jüngeren arbeitet, gezielt nachfragen, ob in deren Familie solche Kriegserlebnisse und Traumata vorliegen, oder die jüngeren Menschen könnten in ihren Familien auch selbst solche Fragen stellen. Wir haben oft den Eindruck, dass wir aus der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen vieles nicht ausreichend

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