Die innere Freiheit des Alterns
Miteinander-Teilen, mehr noch als darüber zu schreiben und zu lesen, kann das Belastende aus uns herausgesetzt und gleichsam auf mehrere Schultern verteilt werden: »Geteiltes Leid ist halbes Leid« – das alte Sprichwort trifft hier tatsächlich zu.
Vor allem das emotionale Mitschwingen der Zuhörenden entlastet, zumal es das eigene emotionale Einschwingen in das damalige belastende Ereignis erst voll zulässt und damit auch eine gewisse Katharsis ermöglicht. Noch mehr entlastet es, wenn die jetzt so aufgeschlossen Zuhörenden auch denjenigen Ländern und Völkern angehören, mit denen wir damals im Krieg lagen. Besonders bewegend und viel bewirkend waren in dieser Hinsicht die Begegnungen und Gespräche zwischen israelischen und palästinensischen, aber auch zwischen israelischen und deutschen Betroffenen, die ein geduldig-unerschrockener psychologischer Vermittler wie Dan Bar On 36 zustande brachte.
Für meine jüdische Gesprächspartnerin, die an echten Flashback-Erlebnissen leidet – so, als geschähen sie jetzt, als kämen bei jedem unerwarteten Klingeln, zum Beispiel des Kaminfegers, jene SS-Schergen, um sie »abzuholen« –,war es zunächst tatsächlich schon eine Erleichterung, weil Verständigung mit sich selbst, als ich ihr aus fachlicher, traumatherapeutischer Sicht her sagen konnte, dass solche Flashbacks nach traumatischen Begegnungen durchaus nichts Seltenes, sondern häufig, gleichsam normal und der Psychotherapie bekannt seien, dass sie also weder als »Einbildung« abgetan noch als therapeutisch unbehandelbar betrachtet werden würden. Sie seien vielmehr zuerst einmal ein objektives Zeichen dafür, dass eine Verletzung so schwerwiegender Art vorliege, dass wir von einer Traumatisierung sprechen müssten. Sie fühlte sich in ihrer lebenslang belastenden Traumatisierung, die sie auch beschämte, endlich »gesehen«, so gesehen und ernst genommen, wie es als Voraussetzung für eine mögliche Therapie als Befreiung von der Folge des Traumas unerlässlich war. In der Folge träumte die betreffende Frau, dass sich über dem zerstörten Gelände – einem Teil ihres Lebens – ein sanftes, versöhnliches Licht ausbreite; dass es auf einmal in eine Lichtatmosphäre getaucht sei, die man so nur im Süden kennt und deren Charakteristisches es ist, harte Konturen zu verschmelzen, gleichsam zu versöhnen.
Da doch, wie wir uns verdeutlichten, der Erinnerungsraum im Alter so unermesslich weit und so wichtig ist für die Vergegenwärtigung des gelebten Lebens, entsteht die Frage, wie wir mit verstörenden Erinnerungen, die diesen Raum verdunkeln, umgehen können.
Der erste Schritt wäre die Orientierung darüber, was da noch alles an Unverarbeitetem im Unbewussten lagert, ein Zulassen dessen vor sich selbst. Im zweiten Schritt kann es zu einem Sprechen darüber kommen, wodurch das Erlebte, was immer es sei, vielleicht zum ersten Mal kommunizierbar gemacht wird. So wird auch der oder die Betroffene aus der Isolierung geholt. Wo es sich um sehr schwere Traumatisierungen handelt,sollte man sich nicht scheuen, auch im Alter noch fachliche Therapie zu suchen. 37
Der nächste Schritt für die Betroffenen wäre die Bemühung um eine Integration des Erlebten in das weitere Leben, in dem es gewiss auch gute Begegnungen und das Glück des Gelingens gibt, wo Erfahrungen von Selbstwirksamkeit aufzufinden wären, die dem Ohnmachtserleben als Opfer entgegengehalten werden können. Es gilt vor allem, sich nicht ein ganzes Leben lang als Opfer zu fühlen. 38 Damit gäbe man den damaligen Peinigern für immer zu viel Macht und zu viel Raum.
Es gilt, wieder zum Gestalter, zur Gestalterin des eigenen Lebens zu werden, gerade auch im Alter und damit endgültig. Manches Belastende muss einfach stehengelassen werden, aussöhnen kann man sich da nicht – wohl aber ist dem das entgegenzustellen, was im eigenen Leben genauso wahr und wirklich ist wie diese vielleicht grausame Erinnerung. Und es kommt darauf an, sich angesichts dieses anderen von dem Belastenden nicht erdrücken zu lassen. In vielen Fällen gibt es auch die Möglichkeit, jetzt, da wohl wieder Abstand von dem seinerzeit so Bedrückenden entstanden ist, wegzugehen von der Stelle, über der – in der Erinnerung – das Fallbeil hing.
So zeichnete eine Frau eine besonders quälende vergangene Situation auf, in der sie auf einem Stuhl direkt unter einem Fallbeil saß. Es war in ihrer Erinnerung nicht faktisch, aber doch symbolisch so gewesen. Beim Betrachten ihrer
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