Die innere Freiheit des Alterns
erklären und verstehen können. Erst, wenn man ausdrücklich nach den Generationenzusammenhängen, nach Eltern und Großeltern fragt, wird erst begreiflich, warum ein Enkel, der zur jetzigen Generation gehört, auch an den Folgen des Traumas leidet. 33
Sabine Bode erzählt die Geschichte eines Mannes, heute Mitte siebzig, den seine Kriegskindheit, darunter die Kinderlandverschickung nach Böhmen, erst mitten im Leben einholte, als eine depressiv-psychotische Krise über ihn hereinbrach. Er erinnert sich, als Kind in seiner höchsten Not der Einsamkeit gedacht zu haben: »Als alter Mann werde ich dann glücklich sein.« Wie ein Mantra, so erzählt er, habe ihn dieser Satz durch sein Leben begleitet: »Ich wusste, ich würde überleben. Aber gleichzeitig war der erlebte Schrecken so groß, dass ich es mit meinem Kinderverstand nicht für möglich hielt, in irgendeiner absehbaren Zeit damit fertig zu werden.« 34 Mit einem gewissen Staunen jedoch berichtet er von dem Kind, das er einmal war. In der Tat lebt er jetzt in seinen Siebzigern ein weitgehend zufriedenes Leben, nachdem er das Kindheitstrauma erkannt und im Rahmen einer Psychotherapie aufgearbeitet hat. 35
Zwei große Sehnsüchte stellt Bode bei allen ehemaligen Kriegskindern fest: die größte, dass es nie mehr Krieg gäbe, und dienächstgroße: dass sie selber endlich als Kriegskind wahrgenommen werden möchten. Mit dieser Vorstellung, es möge nie mehr Krieg geben, hängt es zusammen, dass die Beteiligung Deutschlands am Bosnien- und am Afghanistan-Krieg – und sei es aus noch so gerechten Gründen – in der Generation der Kriegskinder einen gewissen Schock hervorrief. Dieser Schock wiederum weckte auch die Erinnerungen an die eigene Kriegskindheit und ermöglichte so, dass das Thema wieder öffentlich behandelt werden konnte.
Es scheint, dass unsere Generation neben den schmerzhaften Erinnerungen an den Krieg auch von einer chronischen Scham über die Vorgänge in der NS-Zeit geprägt ist, sodass wir den Ausdruck nationalen Empfindens, zum Beispiel den Anblick allzu vieler schwarz-rot-goldener Fahnen, nur mit Unbehagen sehen und niemals eine solche Fahne aus unserem Fenster hängen würden. Befreiend war für manche der Sommer, in dem Deutschland Gastgeberland der Fußball-Weltmeisterschaft war und eine neue, fröhliche Normalität im Umgang mit nationalen Symbolen aufkam, die sogar im Ausland positiv als Rückgang der deutschen Neurotisierung vermerkt wurde.
Als meine ältere Schwester gerade bei mir zu Besuch war, fragte ich sie: »Wäre das nicht eine Sensation, wenn wir beide auch einmal eine deutsche Fahne aus dem Fenster hängen würden?« Wir mussten beide sehr lachen bei dieser Vorstellung, aber dachten gar nicht daran, sie zu realisieren, zumal wir eine solche Fahne erst hätten beschaffen müssen. Wo kauft man heute eigentlich Fahnen?, so fragten wir uns. Wie viel unbefangener sind da die Schweizer, die gerne vor ihrem Ferienhaus eine ihrer hübschen roten Fahnen mit dem weißen Schweizerkreuz im Wind flattern lassen – sogar auf der Nordseeinsel Sylt sah ich einmal eine flattern, auf der Sandburg eines Schweizers.
Das Zauberwort »Frieden« hat allerdings für unsere Generation einen ganz besonderen Klang bekommen. Schon als Kind, während der Kriegszeit, da nannten wir die qualitätsvollen Produkte aus der Vorkriegszeit, die es gelegentlich noch zukaufen gab, »Friedensseife, Friedensschuhe, Friedensware«, und dies war ein Zauberwort. Viele aus unserer Generation haben im Laufe ihres Erwachsenenlebens auch einiges für den Frieden getan. Eine meiner Studienfreundinnen beschrieb die breite kritische Diskussion der Wiederbewaffnung damals in Deutschland. Viele aus unserer Generation schlossen sich den Ostermärschen und der Friedensbewegung an. Wie gesagt, es war geradezu ein Schockerlebnis für uns, als sich Deutschland zum ersten Mal wieder an einer militärischen Handlung gegenüber anderen Völkern beteiligte.
So ist es wichtig, dass wir uns unserer Erinnerungen bewusst sind und ihnen auch treu bleiben. Wir haben eine nicht zu unterschätzende Funktion als Zeitzeugen, auch gegenüber den nachwachsenden Generationen in Europa und in der Welt.
In der Pariser Runde Gleichaltriger aus unterschiedlichen europäischen Ländern, von der ich schon berichtete, wurde etwas sichtbar von dem Heilenden, das der Umgang mit prägender Zeitgeschichte auch haben kann, selbst wenn die Erlebnisse schmerzhaft waren: Durch erzählendes
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