Inkarnationen 05 - Sing ein Lied fuer Satan - V3
1. Kapitel
Das Lied des Morgens
Sie war noch ein Kind, aber in ihrem Traum war sie eine schöne erwachsene Frau, die in einem
herrlichen Brautgewand Arm in Arm mit einem Mann, den sie nicht genau erkennen konnte, durch die
Kirche schritt.
Doch auch ein anderes Bild gehörte zu ihrem Traum; es zeigte das gewaltige Weltenrund. Der Traum
machte selbst das Undenkbare real. Nur war die Welt so gut wie tot. Kein einziger Mensch zeigte
sich auf ihr.
Vage wußte das Mädchen, daß dies die beiden Aspekte ihrer Zukunft waren. Eines dieser Bilder
würde in Erfüllung gehen: Hochzeit oder allumfassende Vernichtung. Warum? Die Aussichten ihrer
Zukunft erschienen dem Mädchen weniger erschreckend als vielmehr geheimnisvoll und
rätselhaft.
Dann erklang Musik. Eine wunderbare, rätselhafte Melodie. Das Mädchen wachte aus Angst auf,
dieses Lied könnte ebenso wie der Rest des Traums vergehen. Doch die Musik verklang nicht; sie
kam von draußen.
Das Mädchen kletterte aus dem Bett, ohne ihre Schwester zu wecken. Nun ja, eigentlich war Luna
nicht ihre Schwester, doch die Beziehung zwischen ihnen war so tief, daß man den Begriff
Schwester ruhig benutzen durfte. Sollte Luna doch weiterschlafen. Sie würde ohnehin nicht lange
fortbleiben.
Sie zog ihre Pantoffeln an und eilte im Nachthemd durch den Flur. Angelockt von der Melodie lief
sie die Treppe hinunter, durchquerte die Diele und erreichte die Tür. Sie umfaßte mit beiden
Händen den Knauf, drehte ihn und hatte endlich die Tür geöffnet.
Die Sommernacht war kühl, aber nicht kalt. Orb, so hieß das Mädchen, rannte los und ließ sich von
der Melodie leiten, ohne nach links oder nach rechts zu sehen. Alles um sie herum erschien ihr
plötzlich so wunderschön.
Schon nach ein paar Schritten blieb sie stehen und lauschte, um festzustellen, woher das Lied
kam.
Nicht weit begann der Wald, von dort erklang die Melodie. Orb lief weiter, scheuchte dabei ein
paar Hühner auf und befand sich schon zwischen den Bäumen. Sie war erst vier Jahre alt, und diese
Strecke war eine ganz schöne Anstrengung für ihre kurzen Beinchen. Eigentlich durfte sie sich
ohne einen Erwachsenen nicht so weit vom Haus entfernen, und sie bekam ein schlechtes Gewissen.
Doch die Musik wurde leiser, und das Mädchen wußte, daß sie sie unbedingt erreichen mußte.
Dick und schwarz ragte der Wald vor ihr auf, eine schier undurchdringliche Wand voller riesiger
Spinnweben, Dornen und anderer Bedrohlichkeiten. Orb eilte zwischen den ersten Stämmen hin und
her, suchte nach einem Weg, in dieses Gebilde hineinzugelangen. Die Musik war kaum noch zu hören.
Orb war der Verzweiflung nahe.
Doch plötzlich fand sie einen Pfad! Sie lief in den Wald. Ihr Herz klopfte, und sie atmete
schwer. Wo war die Melodie? Erschrocken blieb sie stehen und lauschte angestrengt. Nichts, sie
hörte nichts mehr.
Doch dann - ein anderer Rhythmus, eine andere Melodie, aber ebenfalls ein Lied mit eigenem
Zauber. Als Orb weiterlief, wurde die Musik zunehmend lauter.
Der Pfad endete vor einem Fluß. Orb kannte diesen Wasserlauf, allerdings nicht diese besondere
Stelle. Hier war der Fluß noch jung, hüpfte ausgelassen über Steine und erschuf so seine eigene
Musik. Orb spitzte die Ohren, um über dieses lustige Plätschern ihr Lied zu vernehmen. Sie
empfing die Melodie, doch irgend etwas stimmte an der Richtung nicht.
Das Mädchen lief an dem verwilderten Ufer entlang und ließ sich mehr von den Ohren als von den
Augen leiten. Dann hörte sie andere Geräusche, die weder von der ersten noch von der zweiten
Weise stammten und eher mehrstimmigem Gelächter glichen. Sie kamen von einem Teich unterhalb des
Flusses.
Dann entdeckte Orb die Quelle dieser Heiterkeit.
Mädchen planschten im Teich. Anmutige, heitere und nackte Mädchen mit langen Locken. Sie
schwammen, spritzten, tauchten und schienen sehr viel Spaß zu haben. Erst jetzt erkannte Orb, daß
die zweite Melodie von ihrem Gelächter kam.
Eines der Mädchen, wie die anderen eine Nymphe, erblickte zufällig Orb und rief ihr zu: »Hallo,
Menschenkind! Warum kommst du nicht zu uns?«
Die anderen kicherten darüber.
Orb dachte kurz nach und beschloß dann, dieser Aufforderung nachzukommen. Sie zog sich das
Nachthemd über den Kopf und schleuderte die Pantoffel von den Füßen. Nackt wie die Nymphen trat
sie an den Teich.
»Sie hat mich gehört!« entfuhr es der überraschten Nymphe.
Orb blieb unsicher stehen. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
Die Nymphen sahen
Weitere Kostenlose Bücher