Die Insel der besonderen Kinder
beteuerte ich.
Und ich glaubte ihm wirklich – zumindest ein paar Jahre lang. Aber das tat ich vor allem deshalb, weil ich es wollte, so wie andere Kinder in meinem Alter an den Weihnachtsmann glauben wollen. Wir klammern uns an unsere Märchen und wundersamen Geschichten, bis wir einen zu hohen Preis für diesen Glauben zahlen müssen. Bei mir war das in der zweiten Klasse der Fall. An dem Tag stellte mich Robbie Jensen beim Mittagessen vor einem Tisch voller Mädchen damit bloß, dass ich noch an Märchen glauben würde. Ich sollte vermutlich mein Fett dafür wegbekommen, dass ich Großvaters Geschichten in der Schule erzählt hatte. Dennoch verriet mir das mulmige Gefühl in meinem Magen in diesem demütigenden Augenblick, dass mich der Spitzname »Märchenjunge« noch jahrelang verfolgen würde. Und ob es nun berechtigt war oder nicht, ich nahm es meinem Großvater übel.
Grandpa Portman holte mich an just diesem Nachmittag von der Schule ab, wie so oft, weil meine Eltern beide arbeiteten. Ich kletterte auf den Beifahrersitz seines alten Pontiac und tat kund, dass ich seine Märchen nicht länger glauben würde.
»Welche Märchen?« Er sah mich über den Rand seiner Brille hinweg fragend an.
»Du weißt schon. Diese Geschichten über die Kinder und die Monster.«
Er runzelte die Stirn. »Wer hat denn was von Märchen gesagt?«
Ich erwiderte, dass eine erfundene Geschichte und ein Märchen das Gleiche seien. Und dass Märchen für Babys seien. Ich wisse, dass seine Fotos und seine Geschichten Fälschungen seien. Eigentlich rechnete ich damit, dass er wütend würde oder anfing, mit mir zu streiten. Stattdessen sagte er nur: »Okay.« Dann ließ er den Motor an, trat aufs Gaspedal, und der Wagen fuhr mit einem Ruck vom Bordstein. Und das war das Ende der Geschichten.
Er hatte vermutlich kommen sehen, dass ich dem Ganzen irgendwann entwachsen würde. Aber er ließ die Sache so schnell fallen, dass ich das Gefühl hatte, belogen worden zu sein. Ich verstand einfach nicht, warum er sich das alles ausgedacht und mich dazu gebracht hatte, zu glauben, dass solch seltsame Dinge möglich und wahrhaftig seien. Erst ein paar Jahre später erfuhr ich von meinem Dad den Grund dafür. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte Großvater auch ihm einige dieser Geschichten erzählt. Dad sagte, sie seien genau genommen nicht gelogen, sondern stark überzogene Versionen der Wahrheit. Die Kindheit von Grandpa Portman sei nämlich kein Märchen gewesen – sondern eine Horrorgeschichte.
Mein Großvater konnte als Einziger seiner Familie aus Polen fliehen, bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach. Er war zwölf Jahre alt, als ihn seine Eltern in die Obhut von Fremden schickten. Sie setzten ihren jüngsten Sohn in einen Zug nach Großbritannien, mit nichts als einem Koffer und der Kleidung, die er am Leib trug. Es hatte eine einfache Fahrkarte, ohne Rückfahrschein, und er sah seinen Vater und seine Mutter nie wieder. Auch nicht seine älteren Brüder, die Cousins oder Onkel und Tanten. Sie alle starben, noch bevor mein Großvater sechzehn Jahre alt war, ermordet von den Monstern, denen er so knapp entkam. Aber es waren keine Monster mit Tentakeln und faulender Haut – es waren Monster mit menschlichen Gesichtern, in schnieken Uniformen, die im Gleichschritt marschierten und so normal wirkten, dass man sie erst durchschaute, als es zu spät war.
Wie bei den Monstern, so war auch in Bezug auf die verzauberte Insel die Wahrheit hinter der Geschichte verborgen. Verglichen mit dem Horror auf dem europäischen Festland musste meinem Großvater das Kinderheim vorgekommen sein wie das Paradies: ein sicherer Hafen in einem nie endenden Sommer mit Schutzengeln und Kindern mit Zauberkräften, die natürlich nicht
wirklich
fliegen oder Felsblöcke stemmen konnten. Vielmehr bestand die Besonderheit, wegen der sie verfolgt wurden, darin, dass sie Juden waren. Kriegswaisen, angespült auf dieser kleinen Insel von einer Welle aus Blut. Diese Kinder waren nicht deshalb erstaunlich, weil sie über Zauberkräfte verfügten – dass sie den Ghettos und Gaskammern entronnen waren, war schon Wunder genug.
Von dem Moment an, als ich dies erfuhr, bat ich meinen Großvater nie wieder, mir Geschichten zu erzählen, und insgeheim hegte ich den Verdacht, dass er erleichtert war. Eine Aura des Geheimnisvollen legte sich über die Details seiner Kindheit. Ich bedrängte ihn nicht mit neugierigen Fragen. Er war durch die Hölle gegangen und hatte ein Recht
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