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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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kaputt. Ricky schlug nach den Stechmücken, die uns sofort belagerten.
    »Vielleicht ist er ausgegangen«, sagte Ricky grinsend. »Zu einem heißen Date.«
    »Lach du nur«, sagte ich. »Wenn er will, läuft bei ihm mehr als bei uns. In dieser Gegend wimmelt es von heißblütigen Witwen.« Ich machte Witze, um mich zu beruhigen. Diese Stille war beängstigend.
    Ich holte den Reserveschlüssel aus dem Versteck in den Büschen. »Warte hier auf mich«, sagte ich.
    »Den Teufel werde ich tun! Warum?«
    »Weil du über eins neunzig bist, grüne Haare hast, mein Großvater dich nicht kennt, unter Verfolgungswahn leidet und jede Menge Waffen besitzt.«
    Ricky zuckte mit den Schultern und schob sich noch ein Stück Kautabak in die Wange. Dann ging er zu einem Gartenstuhl und machte es sich bequem. Ich schloss die Haustür auf und trat ein.
    Sogar in dem dämmerigen Licht konnte ich erkennen, dass das Haus ein Schlachtfeld war. Es sah aus, als wäre es von Einbrechern durchwühlt worden. Bücherregale und Schränke waren leer, Schnickschnack und die Großdruckausgaben von
Reader’s Digest
lagen auf dem Boden verstreut. Sofakissen waren auf links gedreht, Stühle umgestürzt. In der Küche standen die Türen von Kühl- und Gefrierschrank auf, die Lebensmittel waren herausgerissen worden und schmolzen in klebrigen Pfützen auf dem Linoleum.
    Mir rutschte das Herz in die Hose. Vielleicht hatten meine Eltern recht, und es war meinem Großvater tatsächlich nicht mehr möglich, allein zu leben. Ich rief nach ihm, bekam jedoch keine Antwort.
    Ich ging von Zimmer zu Zimmer, schaltete das Licht ein und suchte überall, wo sich ein paranoider alter Mann wohl vor Monstern verstecken würde: hinter den Möbeln, auf dem Kriechboden unterm Dach, unter der Werkbank in der Garage. Ich überlegte sogar, im Waffenspind nachzusehen – aber der war natürlich verschlossen. Der Griff wies Kratzer auf, die offenbar von seinem verzweifelten Versuch kündeten, den Schrank aufzubrechen. Über der hinteren Veranda schaukelte eine Ampel mit vertrockneten Farnen im Wind. Ich kroch auf Knien auf dem künstlichen Rasen herum und spähte unter die Rattanbänke, voller Angst vor dem, was ich finden könnte. Dann sah ich im Garten ein Licht schimmern.
    Ich stürmte durch die Fliegengittertür und fand im Gras eine Taschenlampe. Ihr fahles Licht deutete auf den Wald, der an den Garten meines Großvaters grenzte – eine struppige Wildnis aus Zwergpalmettos mit ihren fächerförmigen Blättern und wuchernden Laubbäumen, die sich eine Meile weit zwischen Circle Village und der nächsten Siedlung, Century Woods, erstreckte. Man erzählte sich, dass es in dem Wald nur so vor Schlangen, Waschbären und Wildschweinen wimmelte. Ich stellte mir Großvater da draußen vor, wie er wirres Zeug redend in seinem Bademantel herumirrte, und mich beschlich eine dunkle Ahnung. Jede zweite Woche gab es in den Nachrichten einen Bericht, dass ein betagter Städter in ein Regenrückhaltebecken gestolpert und von Alligatoren gefressen worden war. Das schlimmste aller Szenarien war also nicht allzu weit hergeholt.
    Ich rief Ricky, und einen Augenblick später kam er um die Hausecke gestürzt. Ihm fiel sofort etwas auf, was ich übersehen hatte: ein langer, gefährlich aussehender Riss in der Fliegengittertür. Ricky stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist aber ein Mordsding«, sagte er. »Könnte ein Wildschwein gewesen sein. Oder ein Rotluchs. Du solltest die Krallen von diesen Viechern mal sehen.«
    Wildes Bellen brach ganz in unserer Nähe aus. Wir zuckten zusammen und wechselten einen nervösen Blick. »Oder ein Hund«, sagte ich. Es gab eine Kettenreaktion bei den Hunden in der Nachbarschaft, und schon bald bellte es aus allen Richtungen.
    »Möglich.« Ricky nickte. »Ich habe eine . 22 er im Kofferraum. Du wartest hier.« Er ging los, um sie zu holen.
    Das Bellen erstarb und wurde durch einen Chor von Nachtinsekten ersetzt, ein fremdartig klingendes Summen. Schweißtropfen liefen über mein Gesicht und sammelten sich im Kragen. Mittlerweile war es dunkel, und die leichte Brise hatte sich gelegt. Die Luft schien noch heißer zu sein, als sie es tagsüber gewesen war.
    Ich hob die Taschenlampe vom Rasen auf und ging zögernd einen Schritt auf die Bäume zu. Mein Großvater war irgendwo da draußen, davon war ich fest überzeugt – aber wo? Ich war kein Fährtenleser und Ricky auch nicht. Dennoch schien mir etwas den Weg zu weisen – ein Zucken in meiner Brust, ein

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