Die Insel der Mandarine
Papageien sprach. Wer
ist dieses Riesenbaby mit den dicken Muskeln und der eingedrückten Nase ?«
Meister Li winkte mir,
vorzutreten und mich zu verneigen. »Gestatte, daß ich dir meinen ehemaligen
Klienten und derzeitigen Assistenten, Nummer Zehn den Ochsen, vorstelle«, sagte
er. »Ochse, das ist der Strahlende Theokrat, der Oberste Herr der Östlichen
Morgenröte und Erhabenen Klugheit, Träger des Zinnoberroten Zepters der
Offenbarung aller Offenbarungen, oder, wenn es dir lieber ist, der Himmlische
Meister .«
Nach meiner ehrlichen Überzeugung
hinderte mich nur die Tatsache, daß sich mein Körper nicht entscheiden konnte,
ob er nach vorne oder nach hinten umkippen sollte, daran, unsanft zu Boden zu
stürzen. Dieser Mann war kein anderer als Chang-Tao-ling, der oberste
Hohepriester des Taoismus und der einzige Mensch im Reich, der als lebendiger
Heiliger anerkannt wird. In meinem Dorf wurde er ebenso vom Abt unseres
Klosters wie von meinem atheistischen Onkel Nung verehrt. Es wurde behauptet,
daß eine Liste seiner guten Taten vier der fünf heiligen Berge bedeckt hätte,
und hier stand er nun leibhaftig vor mir. Irgendwie brachte ich eine linkische
Verneigung zustande, ohne aufs Gesicht zu fallen.
»Kao, du bist genau der
Mann, den wir brauchen, und ich bin froh, daß jemand so schlau war, darauf zu
kommen«, sagte der Himmlische Meister. »Ich habe in meinem Leben selten etwas
so Merkwürdiges gesehen, und das bedeutet, daß es wie für dich geschaffen ist .«
Der Himmlische Meister war
fast taub, und so merkte er nicht, daß sein Reden eher als Brüllen zu
bezeichnen war. Meister Li seinerseits mußte laut sprechen, um sich
verständlich zu machen, so daß eine recht eigenartige Szenerie entstand:
Hunderte von Menschen standen mit versteinerter Miene und schweigend in einem
riesigen Saal und lauschten zwei Stimmen, die zwischen den Wänden hin-und
hergeworfen wurden, bis ihr Echo über einem Sarg Fangen spielte.
»Du hast es gesehen, sagst
du ?« fragte Meister Li. »Es passierte genau vor meinen
Augen, und wenn etwas so Entsetzliches schon passieren mußte, ist es nur gut,
daß jemand wie Ma Tuan Lin das Opfer war. Schrecklicher Idiot, weißt du, und
eine Schande für den Gelehrtenstand«, schrie der Himmlische Meister.
Das plötzliche Aufblitzen
in Meister Lis Augen ließ mich vermuten, daß er die Meinung des Himmlischen
Meisters über Ma Tuan Lin teilte, aber er bemühte sich, diplomatisch zu sein.
»Ach, ich weiß nicht. Auf dem Gebiet der Forschung hatte Ma etliche Qualitäten. Nur waren seine Schlußfolgerungen idiotisch .« »Kao, du bist viel zu großzügig !« brüllte der Himmlische Meister. »Er war von Kopf bis Fuß ein Esel, und sein
Selbstbewußtsein war ebenso aufgebläht wie sein Leib. Du hättest sehen sollen,
wie sie sich abgemüht haben, diesen Fettklumpen in den Sarg zu quetschen .«
Der Heilige schwenkte
mühsam auf seinen Stöcken herum und funkelte die Reihe schmallippiger Mandarine
an. »Verdammte Narren !« schrie er. »Hättet ihr dem
toten Ma einen Einlauf gemacht, so hättet ihr die Reste in einer Walnußschale
begraben können !«
Dann wandte er sich wieder
an Meister Li.
»Also gut, für diese Dinge
bist du zuständig, nicht ich. Du hast die Sache übernommen, also sage mir, was
du willst, und ich werde versuchen, dir zu helfen«, meinte er schlicht . »Fangen wir mit dem an, was du gesehen hast, aber
laß uns zunächst aus diesem Mausoleum verschwinden«, entgegnete Meister Li
gutgelaunt.
Eine strahlende Wärme
umfing mich, als der Himmlische Meister auf eine Seitentür zustrebte. Was für
ein phantastischer Glücksfall!
Wenn Blicke töten könnten,
wäre Meister Li toter als Ma Tuan Lin gewesen, aber alles, was die Mandarine
tun konnten, war, ihm finster hinterherzuschauen. Wir traten in einen Korridor,
an dessen Ende sich ein Arbeitszimmer mit Blick auf einen kleinen Garten
befand. Es war ein abgenutzter und schäbiger, aber gemütlicher Raum, vollgestopft
mit Erinnerungsstücken aus der Zeit meines Urururgroßvaters, und der Himmlische
Meister ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf eine gepolsterte Bank
sinken und lok-kerte den Griff um seine Stöcke. Dann kam er unverzüglich zur
Sache.
»Es war in der vorletzten
Nacht, Kao, gegen Morgen, genauer gesagt, um die Doppelstunde der Schafe. Ich
konnte, wie gewöhnlich, nicht schlafen, der Mond schien hell, und du weißt, wie
heiß es in letzter Zeit war. Ich stand auf, warf mich in ein Gewand, nahm
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