Die Insel der Verlorenen - Roman
allen drei Städten an falschen Türen geklingelt, Telefonbücher gewälzt und städtische Angestellte, Admiräle, Arbeiter, Betschwestern, Kartenleger und Historiker befragt habe, gab mir irgendjemand, fast durch Zufall, an einer Straßenecke diese Adresse. Wenn sie stimmt, dann habe ich endlich einen der drei Überlebenden der Tragödie von Clipperton gefunden.
Sie stimmt. Frau Alicia Arnaud, verwitwete Loyo, öffnet mir die Tür, das zweite Kind der vier, die Hauptmann Arnaud und seine Frau Alicia hatten. Sie ist 77 Jahre alt und mag sich nicht erinnern. Rühren Sie bloß nicht die Vergangenheit in mir auf, warnt sie mich sanft. Aber sie erinnert sich noch und kann es bezeugen. In einem fernen Winkel ihres Gedächtnisses ruht die Geschichte, der ich auf der Spur bin, sorgfältig eingerollt und gut erhalten.
Das L-förmige Haus mit den vielen Zimmern lehnt mit dem Rücken am Parkhaus und öffnet sich zu einem Hof, es strahlt Frische aus, obwohl bei der Señora seit vielen Jahren nur noch eine Angestellte lebt, die ihr zur Hand geht. Die Wände sind mit Fotos ihrer Kinder tapeziert – lassen Sie uns lieber von der Gegenwart sprechen, findet sie, während sie mir alle einzeln vorstellt und mich mitnimmt auf Erstkommunionen, Hochzeiten, Examensfeiern. Dann lässt sie mich am Küchentisch Platz nehmen und ich sehe zu, wie sie die Milch, die ihr der Älteste, ein Viehbauer, in einer Blechkanne von der Hacienda mitgebracht hat, auf mehrere Krüge verteilt. Reden Sie bitte nicht von der Vergangenheit, sagt sie. Die lasse ich lieber ruhen, fährt sie fort, es ist eine halbe Ewigkeit her, dass ich über Clipperton gesprochen habe. Ich bin 1911 auf der Insel geboren und war bis zu meinem sechsten oder siebten Lebensjahr dort, wozu soll ich diese alten Kamellen aufwärmen.
Indes sie ein ums andere Mal nein und nein wiederholt, kehrt Clipperton unbemerkt zurück, stiehlt sich sachte, Stück für Stück, in ihre Küche. Je länger Doña Alicia spricht, desto mehr kommt sie in Fahrt. Sie verfällt in einen anderen Ton. Sie vergisst die Milch.
»Also, was mich angeht, ich habe nur gute Erinnerungen, fröhliche Erinnerungen, was anderes kann ich nicht erzählen. Clipperton war vielleicht eine Tragödie, aber für die Erwachsenen. Wir Kinder waren glücklich dort. Schwierig wurde es für uns erst danach, als wir wieder zurück waren. Aber dort, nein, wenn es nach uns gegangen wäre, dann wären wir für immer dageblieben. Manchmal haben wir die Erwachsenen weinen sehen und haben mitgeweint, ein bisschen wenigstens, obwohl wir gar nicht wussten warum, aber dann sind wir gleich wieder losgedüst und haben unsere eigenen Sachen gemacht.
Unsere eigenen Sachen, das hieß, wir spielten, den lieben langen Tag. Wir reihten ein Spiel ans andere und kamen nie zum Ende. Am Anfang hatten wir Unterricht in Lesen und Schreiben, Papa wollte nämlich nicht, dass wir eines Tages als Wilde nach Orizaba zurückkämen. Deshalb hat Mama eine Schule eingerichtet, in der sie die Lehrerin war und die Schüler waren wir, also die Geschwister Irra, die beiden Jensen-Töchter, Jesusa Lacursa, wir Arnauds und all die anderen Kinder, die auf Clipperton wohnten. Aber später, als so viel passiert ist, da konnten sich die Erwachsenen nicht mehr richtig um uns Kinder kümmern. Sie haben uns nur zwischendurch mal was zu essen gegeben oder das Nachtgebet mit uns gesprochen. Die übrige Zeit waren wir ohne sie unterwegs, frei wie junge Tiere. Wir spielten und spielten, bis wir vor Müdigkeit umfielen.
Sie wollen, dass ich Ihnen von meinem Vater erzähle, aber ich kann mich kaum an ihn erinnern. Es gab Zeiten, in denen war er so besessen von seinen fixen Ideen, dass er uns nicht einmal sah, wenn wir direkt vor ihm standen. Als er sich zum Beispiel in den Kopf gesetzt hatte, die Schätze von Pirat Clipperton vom Boden der Lagune zu heben – monatelang gab es für ihn nichts anderes mehr. Manchmal galten seine fixen Ideen aber auch uns. Er hat uns mal tagelang aus Treibholz Schiffchen zum Spielen geschnitzt. Sie waren perfekt, lauter hinreißende Miniaturen. Wir hatten auch anderes Spielzeug, vom Festland – ich kann mich noch an eine Porzellanpuppe erinnern; Altagracia Quiroz hat ihr mal eine Perücke aus Echthaar gemacht, als sich die Frauen eines Tages alle gleichzeitig die Haare abgeschnitten haben –, aber die geschnitzten Schiffchen von meinem Vater waren für uns immer das Schönste. Wir ließen sie in der Lagune schwimmen, mal als Kriegsschiffe, mal
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