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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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als Frachter, je nachdem. Wir spielten, dass sie untergingen und dass ein paar Passagiere ertranken – die Ärmsten – , den anderen schenkten wir das Leben.
    Mein Vater wurde nur ernst, wenn wir uns zu Tisch setzten. Er sagte, wir wären zwar am Ende der Welt und nur die Krabben würden uns beim Essen zuschauen, aber wir müssten uns trotzdem benehmen, wie anständige Leute. Na ja, als es dann losging mit den Katastrophen, da konnte er nicht mal mehr das verlangen, und wir verwilderten zusehends. Nachdem der Orkan alles blank gefegt hatte und sogar Teller, Besteck und Tischtücher wegblies, vergaßen wir sämtliche Tischmanieren, die er uns beigebracht hatte. Das konnte uns nur recht sein, je weniger Regeln und Zwänge, desto glücklicher waren wir. Wir haben dann angefangen, nach Lust und Laune zu essen, mit den Händen, hier einen Happen und da einen Bissen. Die Eier von den Tölpeln hatten blaue Schalen, die haben wir geliebt. Wir haben unsere Mahlzeiten ins Spiel eingebaut, uns am Strand Essen gekocht und Salz draufgestreut.
    Wir vertrieben uns oft die Zeit mit den Landkrabben. Ich glaube, auf Clipperton gibt es davon mehr als in der ganzen restlichen Welt. Es waren so viele, dass man kaum auftreten konnte. Wenn unser Haus nicht etwas erhöht gestanden hätte, dann wäre es garantiert genauso von den Landkrabben eingenommen worden wie der Strand, die Felsen, die Höhlen, überall wimmelte es von Krabben. Wir beobachteten sie gerne beim Kämpfen. Das sind wirklich brutale Viecher, die schlagen sich gegenseitig tot. Wir haben sie in Dosen gefangen und regelrecht Wettkämpfe mit ihnen ausgetragen.
    So verlief unser Leben, und es war ein glückliches Leben. Am Ende sind wir nur noch barfuß und halb nackt herumgelaufen, mit ein paar Lumpen bedeckt, die uns Mama aus Segeltuch zurechtgeschnitten hat. Wir waren von der vielen Sonne pechschwarz und sahen aus wie Afrikaner. Unsere Haare standen in alle Richtungen und waren völlig verfilzt, weil wir uns nur mit Meerwasser wuschen, ohne Seife.
    Wir Kinder auf Clipperton hatten keine Ahnung, was Not bedeutet. Na ja, mein Bruder Ramón, der Älteste von uns, vielleicht schon. Ich glaube, er hat manchmal mitbekommen, dass etwas nicht so lief wie es sollte. Ramón vergötterte meine Mutter, und wenn sie weinte, dann hing er wie eine Klette an ihrem Rockzipfel.
    An dem Tag, als Papa gestorben ist, da haben wir alle zusammen am Strand gestanden, die Kleinen und die Großen. Wir haben zugesehen, wie er in einem Boot auf dem Meer weggefahren ist, und plötzlich der Mantarochen auftauchte und das Boot umkippte. Wir haben gesehen, wie die Wellen ihn verschluckten. Wir haben auch den Mantarochen gesehen, ein schwarzes Tier, das wie ein riesiger Schatten aus dem Wasser herauskam. Ich weiß nicht mehr, ob wir ihn wirklich gesehen oder ob wir ihn uns nur vorgestellt haben. Manchmal haben wir gesagt, er wäre schwarz mit blauen Streifen gewesen, andere Male, dass er silbrig war und geschimmert hätte.
    Es gehörte nämlich zu unseren Spielen dazu, dass wir uns Geschichten ausdachten, Gruselgeschichten oder irgendwas über unsere Großeltern, die wir ja kaum kannten, oder über unsere Cousins, von denen uns meine Mutter erzählte. Wir haben alle Freunde erfunden, die wir haben wollten, deshalb haben wir nie jemanden vermisst. Über meinen Vater haben wir uns alles Mögliche ausgedacht, nachdem er gestorben war. Am liebsten stellten wir uns vor, dass er den versenkten Piratenschatz auf dem Meeresboden findet und uns die Juwelen und die Kronen schenkt. Oder, dass er der König der Ozeane geworden war und unter Wasser in einer Kutsche fuhr, die vom Mantarochen gezogen wurde. Manchmal sagten wir, er wäre gar nicht tot, er wäre nur weggefahren und würde mit Apfelsinen und Spielzeug für uns wiederkommen. Dann taten wir in der Nacht kein Auge zu, solche Angst hatten wir, dass uns tatsächlich sein Geist erscheinen würde.
    An diese Dinge kann ich mich erinnern, weil meine Mutter sie uns, nachdem sie passiert sind, tausendmal erzählt hat, viele Jahre lang. Immer, wenn sie anfing, von Papa zu reden, holte sie eine lange graue Perlenkette aus ihrer Schmuckkassette, die hatte er ihr aus Japan mitgebracht, und wir durften sie anfassen.
    Aber das ist doch alles belangloses Zeug, lauter kleine, verblichene Erinnerungen, die Ihnen für Ihr Buch nicht viel nützen werden. Wenn Sie Zeit haben, dann nehme ich Sie lieber mit raus zur Hacienda, die ist zwanzig Minuten im Auto von hier entfernt, da

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