Die Insel der Verlorenen - Roman
üblich, und Orden und Ehren und Bequemlichkeiten wären ihm sicher gewesen. Da dies aber nicht mehr vorhanden war, musste er sich auf die Stufe des gewöhnlichen Mexikaners begeben und als Kasernenfleisch schinden. Ein Privileg gestand man ihm aufgrund seiner Herkunft gleichwohl zu: Er durfte drei oder vier Dienstgrade überspringen und sofort als Oberfeldwebel den Dienst beginnen.
Als er die ersten bitteren Löffel der Suppe gekostet hatte, die das Kasernenleben war, bereute der junge Ramón Arnaud seinen Entschluss und wollte ein Schicksal wenden, das bereits besiegelt war. Er beging den größten Fehler seines Lebens und tat einen Schritt, der seine restlichen Tage im Guten wie im Bösen überschatten würde.
Es geschah an jenem Abend in der Baracke hinter den Maissäcken, als er fand, lieber eine Schmach einstecken, als sich zu Tode ekeln, und anfing zu laufen.
Nach seiner Fahnenflucht tauchte er in Mexiko-Stadt unter, versteckte sich wie ein Verfolgter und schämte sich wie ein Sünder. Einen Monat lang streifte er im Viertel Tepito durch schmutzige Gassen, fand Unterschlupf in den Markthallen von La Merced, wich dem Kot aus, den die Anwohner aus den Fenstern warfen, verkroch sich in die Bruchbuden der Huren von der Calle del Órgano, gesellte sich in den Tavernen unter todesverliebte Bohemiens und blinde Musiker und machte Feuerspuckern, Ausrufern und Katzenfängern die kargen Einnahmen streitig.
Das böse Erwachen kam, als sie ihn eines Tages aufspürten und als Fahnenflüchtigen nach Santiago Tlatelolco hinter Gitter brachten, wo ihm in endlosen feuchten Nächten seine verlorene Ehre sehr viel mehr zu schaffen machte als die kalte Zelle oder die Läuse auf dem Kopf, und er dachte, nein, er hatte sich geirrt, es war weitaus besser umzukommen, tausend Tode zu sterben, als ein einziges Mal diese Schande durchzumachen.
In seinen schlaflosen Nächten beschwor er fiebernd die grausamsten Todesarten herauf: den Feuertod, zerstückelt und Glied um Glied auf einem Rost braten; den Tod durch Gestank, langsam in einem glibberigen, übelriechenden Sumpf untergehen; den Wassertod, ins Meer stürzen und vom Schatten eines riesigen schwarzen Mantarochens mit blauem Schimmer bis zum Ertrinken verfolgt werden.
»Jede«, delirierte er, »jede dieser Qualen will ich auf mich nehmen, nur nicht diese Demütigung.«
Am Tag seiner Freilassung, als er sich vom Fieber erholt hatte und wieder im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten war, legte er ein Gelübde ab. Kaum hatte er das Gittertor durchschritten und stand vor Santiago Tlatelolcos schwarzen Mauern aus präkolumbianischem Stein, da leistete er den heiligen Schwur, im Andenken an seinen Vater, aus Liebe zu seiner Mutter, auf die sieben Dolche der Heiligen Jungfrau der Schmerzen und zum Ruhm seines Vaterlandes, dass er nie wieder, weder als Mann noch als Soldat, die Schande einer Demütigung auf sich nehmen werde.
Mexiko-Stadt
– 1907 –
Der Ingenieur-Oberst Abelardo Avalos, Pate und Fürsprecher des jungen Unteroffiziers Ramón Arnaud, hat seinen Patensohn nach Mexiko-Stadt zu einem Gespräch bestellt.
»Du gehst nach Clipperton, Ramón. Als Befehlshaber einer Garnison von elf Soldaten.«
Einfach so, so wie man das Auge reibt, teilte er ihm das mit.
Als er das Wort Clipperton vernahm, spürte Arnaud ein Stechen hinter der Stirn. Er kannte diese verdorbene, in den Weiten des Ozeans verlorene Insel ganz genau, weil er Oberst Avalos schon mehrmals dorthin begleitet hatte. Sein Inneres verkrampfte sich, ihm brannte das Gesicht, er wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose ab.
»Ich soll verbannt werden«, sagte er kaum hörbar, weil er genau wusste, dass ihm seine Vorstrafe wegen Fahnenflucht moralisch das Recht auf Widerspruch nahm.
Zusammengesunken und in seinen Sitz geduckt, bettelte er beinah flüsternd weiter: Er sei schließlich schon 27, er sei schon alt und bärtig und erst Leutnant, auf jene Insel zu gehen, das sei quasi ein Neuanfang, wieder ganz von vorn, zum dritten Mal. Das sei zu viel, da verlangten sie zu viel von ihm. Fanden sie wirklich, dass er so ein schäbiges Schicksal verdient hatte? Warum sollte er denn eine dritte Feuerprobe bestehen, die zweite habe er doch glänzend genommen?
Nachdem seine Strafe in Santiago Tlatelolco verbüßt war, hatte Arnaud sich vorgenommen, mit der Beharrlichkeit eines Esels von vorn zu beginnen, den gleichen Weg noch einmal zu gehen und sich als tapfer zu erweisen, wo er vorher ängstlich reagiert
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